Warum es gut sein kann, keine Wahl zu haben.

Eine meiner Töchter wird zum nächsten Schuljahr Chemie und Biologie abwählen – und investiert sich schon jetzt entsprechend zurückhaltend in diese Fächer. „Ich kann Chemie überhaupt nicht“, sagt sie, „gut, dass ich das abwählen kann.“ Ich kann sie verstehen, weiß aber, dass `überhaupt nicht können´ nur möglich ist, weil sie überhaupt nicht muss. Zu meiner Zeit und in meinem Land ging das nicht – Fächer abwählen. Wir durften in der Oberstufe lediglich entscheiden zwischen Kunst und Musik, das war´s. Weil es keine Abwahl-Alternative gab und diese dann eben in meinem Denken auch nicht vorkam, merkte ich: Ein bisschen Chemie konnte ich eben doch. Ich war (und bin) nicht schlauer oder naturwissenschaftlich begabter als meine Tochter, glaube ich. Ich hatte nur keine Wahl – und das mobilisierte Energien in mir, die mir sonst verborgen geblieben wären.

Das System war nicht besser oder schlechter als das heutige. Aber es hat mir weder geschadet noch das Genick gebrochen, alle Fächer bis zum Abitur belegen zu müssen.

Wer die Wahl hat … 

Wir können wählen. Aber nicht viele tun es – wie die geringe Wahlbeteiligung der Niedersachsen bei der vergangenen Landtagswahl zeigt. Dennoch: Theoretisch können wir wählen, wer uns regieren soll. In Gesprächen über Politik merke ich, dass Menschen, die sich gut verstehen, zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen, von wem und wie sie regiert werden möchten. Eine solche Wahl ist eben sehr subjektiv und enorm davon abhängig, in welcher Lebensrealität man sich befindet: Eltern sind sicherlich stärker an Schulpolitik interessiert als Menschen ohne Kinder. Leute mit Solaranlagen auf dem Dach, unterstützen diejenigen, die erneuerbare Energien fördern. Junge Unternehmer wünschen sich für ihre Arbeit und Innovation den größtmöglichen persönlichen Freiraum. Und so weiter.

Die meisten Menschen sind vorwiegend an ihren persönlichen Anliegen interessiert – und denken erst danach an das Wohl der Gesellschaft. An sich wäre das kein Problem, frei nach dem Motto: `Wenn jeder an sich denkt, ist an jeden gedacht!´ Das funktioniert, wenn nach der Wahl eine gute Mischung aller Interessen in der Regierung vertreten ist. Was aber, wenn 40 Prozent der Menschen gar nicht erst wählen gehen? Dann ist das Wahlergebnis nicht repräsentativ – und das ist nicht nur schade, sondern problematisch. Verantwortlich dafür sind zum einen die Leute selbst, klar: die bequemen oder ignoranten Nichtwähler. Andererseits empfinde auch ich eine gewisse Distanz zwischen politischen Beschlüssen und meiner Lebensrealität – egal, auf welche Partei ich höre. `Wer die Wahl hat, hat die Qual´, heißt es. Wer sich von keiner Partei wirklich vertreten fühlt, quält sich dafür vielleicht nicht ins Wahllokal.