In der Stadt

Eines Morgens verbringe ich drei Stunden in der Landeshauptstadt: Ich warte auf einen Frisch-Operierten und bin selbst ohne Beschäftigung. Die Fassaden wirken auf mich hässlich und grau, irgendwie abgegrabbelt und `nicht schön´. Einige Zeit sitze ich in einem Bäckerei-Café und beobachte, wie der Straßenzug vor mir langsam aufwacht: Müll-Autos, Lieferdienste, eilige Radfahrer, zunehmend auch Fußgänger, gelegentlich ein Bus. Immer mehr Menschen sind auf den zunächst leeren Bürgersteigen unterwegs und beleben die triste Umgebung.

Zwischendrin regnet es – dennoch trägt kaum jemand eine Regenjacke. Unter ausgefahrenen Markisen und überstehenden Dächern, im Schatten der Häuser wird man nicht so leicht nass wie bei mir zu Hause in meinem ländlichen Kleinstadt-Viertel. Die Leute, die ich sehe, sind sehr unterschiedlich. Diese Vielfalt ist inspirierend und irritierend gleichermaßen. Sind Menschen hier einzigartiger als in der Provinz oder zeigen sie nur mutiger ihren individuellen Stil? Es scheint alles erlaubt; dennoch komme ich mir verloren vor: Die Menge der einzigartigen Individualisten wirkt anonym. 

Nicht so in `meinem´ Café; ich identifiziere einige Stammgäste. In der Stadt geht beides – in der Masse untergehen und sich in seinem Kiez zugehörig fühlen. Trotzdem möchte ich nicht hier wohnen: Mein Zuhause ist eher der ländliche Raum.

In der Stadt

Wir brauchen etwas zum Anziehen und fahren in die Großstadt zum `Shoppen´ . Schon den Gang durch die Fußgängerzone empfinden meine Töchter und ich nicht als abenteuerlich und spannend. Stattdessen führt er uns die Widersprüche unserer Gesellschaft deutlich vor Augen: Obdachlose, Punks mit den zu ihnen gehörenden Hunden, Bettler ohne Beine, Flüchtlinge in Gruppen, Geschäftsleute, bis unter die Haarspitzen zurechtgemachte junge Menschen (beiderlei Geschlechts) … – wir sind nicht abgestumpft genug, um unbeteiligt an dieser erschreckenden Vielfalt vorbeizugehen.

Die Geschäfte selbst ähneln Konsumtempeln: Unmengen an Kleidung; lange Schlangen vor den Umkleidekabinen; laute Musik und Kunstlicht auf mehreren Etagen, die vielleicht sortiert sind, aber riesig und unübersichtlich wirken. Die schiere Masse an `Zeug´ erschlägt uns. Vor meinem inneren Auge sehe ich, wie sich die Mode von hier und heute schon morgen auf afrikanischen Second-Hand-Märkten stapelt: Mit dem Müll, den wir hier nicht (mehr) brauchen, belasten wir gern andere – und fühlen uns vielleicht sogar noch großzügig.

Wieder zu Hause haben wir zwar leere Taschen, freuen uns aber über unser ruhiges (Klein-)Städtchen – und sind um mindestens eine Erkenntnis reicher: Wir brauchen ganz viel nicht.

Eine Frage der Perspektive

Einer meiner großen Söhne denkt laut nach: „Dorfkinder verhalten sich anders als die aus der Stadt. Die vom Dorf trinken kein Radler oder so etwas, die trinken nur „richtiges“ Bier. Ich schaue ihn kommentarlos und leicht verwirrt an. Er fügt hinzu: „`Vom Dorf´ heißt für mich – die aus dem Landkreis.“ Ach so, klar, einige seiner Mitschüler wohnen nicht direkt in Celle, sondern in den umliegenden Ortschaften. Nach einem Moment schiebt er hinterher: „Für die Hamburger sind wir Celler `vom Dorf´.“

Vieles ist eine Frage der Perspektive.