Wir haben gern einen Schuldigen: Der Reifen ist platt, weil irgendjemand Splitt auf den Feldwegen verteilt. Verantwortlich für das unangenehm feucht-kalte Novemberwetter ist die Mutter, die ihre Kinder mit dem Fahrrad in die Schule schickt. Der Ausgang eines Fußballspiels liegt meist in den Händen des Schiedsrichters – und seiner Fehlentscheidungen. Den Streit hat immer ein anderer begonnen. Und die sich wöchentlich verschärfenden Maßnahmen gegen Corona verdanken wir unvernünftigen Jugendlichen, Verschwörungstheoretikern oder den Unbelehrbaren, die immer noch unbedingt im Ausland Urlaub machen müssen. Es lebt sich einfach besser damit, einen Schuldigen benennen zu können – solange wir es nicht selbst sind: „Mea culpa“ mögen wir zwar sagen, es ist aber selten wirklich ernst gemeint.
Dabei kann es so befreiend sein, gelassen und ehrlich zu bleiben: Nicht nur für das Wetter lässt sich nicht so leicht ein Schuldiger finden. Mit manchen Unannehmlichkeiten müssen wir uns arrangieren; uns zu ärgern, macht es nicht besser. Und wenn ein Problem doch in uns selbst seinen Ursprung hat, ist es peinlicher, alles abzustreiten, als zuzugeben: „Ich habe einen Fehler gemacht.“ Wahrscheinlich macht uns das sogar barmherziger mit anderen – und nimmt allem Unfrieden den Wind aus den Segeln.