Mich gegen Anordnungen aufzulehnen, fällt mir schwer; ich tue eher, was man mir sagt. Diese nicht immer hilfreiche Eigenschaft schiebe ich zum Teil auf mein Aufwachsen im Osten der Republik: Dort legte man vor 40 Jahren keinen Wert darauf, Menschen zur kontroversen Mitsprache zu motivieren. Stattdessen galt es, Vorschriften zu befolgen und möglichst nicht zu hinterfragen. In diesem „gesellschaftlichen Klima“ bin ich aufgewachsen – es hat mir nicht nur gut getan. Nach dem Fall der Mauer fühlte ich mich oft belächelt wegen meiner vermeintlichen Obrigkeitshörigkeit.
Seit 30 Jahren lebe ich in einem anderen „gesellschaftlichen Klima“. „Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine“, hat Helmut Schmidt gesagt. Das stimmt und hat Schattenseiten: Im Westen der Republik weiß (und sagt) heute jeder Grundschüler, welche Rechte er hat – und welche seine Lehrerin eben nicht hat. Auch das tut uns nicht nur gut. Vor diesem Rechtsbewusstsein zucke ich innerlich zusammen und frage mich, wie es unsere Gesellschaft langfristig verändern wird.
Das Corona-Virus bringt es mit sich, dass diese beiden „Klimata“ aufeinanderprallen wie schon lange nicht mehr – und zwar überall in der Republik. Da sind diejenigen, die hinsichtlich der Maßnahmen
kritiklos alles mitmachen, was vorgeschrieben ist;
alles mitmachen und schweigen, obwohl sie nicht alles gutheißen;
alles mitmachen und – in bestimmten Kreisen – ihre Zweifel artikulieren;
nur mitmachen, was ihnen einleuchtet, und sich teilweise widersetzen;
sich gegen alles auflehnen – in Wort und Tat
… und dazwischen noch so einige Abstufungen.
Den meisten von uns fällt es schwer, andere Meinungen zu akzeptieren – denn wir sind von unserer eigenen überzeugt, zumindest im Stillen: Was wir wirklich denken, bleibt unsere Sache; nur was wir tun, sieht jeder. In einer Gesellschaft können wir uns entscheiden zwischen Gehorsam und Ungehorsam. Gehorsam muss manchmal sein, weil die Freiheit des Einzelnen nicht über dem Gemeinwohl stehen darf. Ungehorsam darf manchmal sein, wenn die Freiheit des Einzelnen zu stark eingeengt wird – und sei es zum (vermeintlichen) Wohl der Gemeinschaft.
Eine Mitschülerin meiner Kinder wurde wegen wiederholter „Verstöße gegen die Maskenpflicht“ für eine Woche vom Unterricht suspendiert. Sie musste einmal zu oft dazu aufgefordert werden, ihre Maske auch über die Nase zu ziehen.
Ihr Verhalten lässt sich sehr unterschiedlich „bewerten“: Einige sagen: „Sie ist schlecht erzogen, rebellisch und akzeptiert keine Autorität.“ Andere – wie ich – finden: „Das war kein offener Akt der Rebellion. Ihr fehlt die Einsicht in den Sinn dieser Maßnahme und darum macht sie nur halbherzig mit.“ Ich kann sie gut verstehen – zumal sie genau in dem Alter ist, in dem man hierzulande und heutzutage nicht einfach tut, was einem gesagt wird.