Eine meiner Töchter macht ein Praktikum; sie fährt daher jeden Tag 14 Kilometer mit dem Rad.
Einerseits: Es ist klirrend kalt; sie wird einen festsitzenden Husten nicht los; das Praktikum ist vor allem langweilig und dadurch anstrengend; ihr neues gebrauchtes Fahrrad hat (noch) einen unpassenden Sattel und dadurch einen ungünstigen Winkel für ihre Körpergröße.
Andererseits: Die Luft ist klirrend kalt und klar, der Himmel ein wunderbares Spektakel der aufgehenden Sonne; durch das Praktikum merkt sie, was sie nicht machen will; unser Flachland ist optimal fürs Radfahren; weil ich sie nicht mit dem Auto bringe, bewegt sie sich (und ich spare insgesamt 28 Kilometer und eine Stunde mit dem Auto im Stadtverkehr).
Jeden Morgen ist meine Tochter angesichts der vor ihr liegenden Fahrt schlecht gelaunt; jeden Morgen empfinde ich deswegen – irgendetwas zwischen Mit- und Schuldgefühl: SIE kann sich an der klaren Luft nicht so erfreuen wie ich; außerdem bleibe ICH in der warmen Küche sitzen, wenn sie sich auf den Weg macht.
Dass ihr das Praktikum keinen großen Spaß macht, dass das Rad (noch) nicht optimal eingestellt ist, dass sie der klaren Luft nichts abgewinnen kann, dass ihr Husten davon nicht besser wird: Es ist alles nicht meine Schuld, und dennoch habe ich nicht nur Mitleid, sondern auch ein kleines schlechtes Gewissens. Ich weiß nicht, warum. Mein Trost: Einerseits würde ich ihr gönnen, dass das Gesamtpaket Praktikum für sie leichter und angenehmer wäre. Andererseits weiß ich, dass es eine wunderbare Schule ist, sich in suboptimalen Umständen zu bewähren und dabei zu merken: Ich schaffe das!