Nähe oder Distanz

Mit einem alten Schulfreund verbringe ich nur einmal im Jahr ein Wochenende – und trotzdem fühle ich mich ihm nah. Manche Leute, die ich jeden Sonntag im Gottesdienst treffe, bleiben mir fremd. Und in meiner WG vor 25 Jahren war ich einigen nah und anderen nicht – obwohl wir alle gut miteinander ausgekommen sind. 

Emotionale Nähe und Distanz sind unabhängig von räumlicher Nähe und Distanz.

Distanz

Wir leben in einer Zeit der Abstandsregeln: Distanz heißt „Vorsicht“ und ist das Mittel der Wahl, um Infektionsketten zu durchbrechen. Händeschütteln ist ebenso tabu wie eine Umarmung. Sobald ich mich unwohl fühle, soll ich erst recht auf Abstand gehen – Geschäfte nicht betreten, Menschen nicht treffen, jegliche Gemeinschaft meiden.

Distanz mag Ansteckungen verhindern; ebenso auf der Strecke bleiben aber auch Herzlichkeit, Nähe, Anteilnahme und Empathie. Und genau das stärkt Menschen – besonders, wenn sie sich unwohl fühlen.

Nähe

Ich fühle mich den unterschiedlichsten Menschen nah – manchmal kenne ich sie gar nicht persönlich. Das ist eine Nähe, die Raum und Zeit überwindet, rein geistiger Natur: Da spricht mich ein Schreibstil an, bringen mich Ideen zum begeisterten Nicken, schätzt ein Autor, den ich mag, denselben Pastor wie ich – und ich fühle mich demjenigen nah, vertraut, wünschte mir die menschliche Begegnung manchmal, um das, was ich an Nähe denke, auch wirklich zu erleben. Das Internet macht es möglich, dass ich ein Bild vor Augen habe und Leute auf der Straße freundschaftlich grüßen würde, die mich aber gar nicht kennen.

Würde mir jemand einen Wunsch freistellen oder zwei oder drei – ich wünschte mir Begegnungen mit diesen Menschen, die so viel für mich bedeuten, von denen ich mich verstanden fühle, für die ich aber gar nicht existiere und die ich letztlich nur zu kennen meine. Vielleicht ist es ein Segen, dass mir keiner einen Wunsch freistellt: Ich weiß nicht, ob die tatsächliche Begegnung der Vorstellung in mir standhalten würde.