Wir kennen uns (nicht)!

Auf dem Weg durch unsere Nachbarschaft begegnete mir vor ein paar Wochen eine Frau. Wir grüßten uns, weil man sich in der Nachbarschaft eben grüßt, dachte ich. Bis dato war sie mir nie als `hier um die Ecke´ ansässig aufgefallen. Die Frau erzählte ganz vertraut von ihrer Tochter – gerade so, als würde sie mich kennen. Ich dagegen konnte sie überhaupt nicht zuordnen und dachte: `Vielleicht ist es die Mutter irgendeines Mitschülers irgendeines unserer Kinder.´ So etwas passiert mir manchmal: Ich habe kein gutes Personengedächtnis und kann Menschen außerhalb des gewohnten Kontextes (in diesem Fall: vielleicht Elternabend?) schlecht zuordnen.

Heute saß dieselbe Frau aufgrund eines Stadtteilflohmarktes vor ihrem Haus. „Gerade habe ich zu Tina gesagt: `Dagmar war auch schon hier´“, ruft sie mir bei meinem zweiten Vorbeigehen zu. Welche Tina …?, frage ich mich, lasse mir meine Sprachlosigkeit nicht anmerken, lächle und nicke freundlich. Sie kennt nicht nur mein Gesicht, sondern auch meinen Namen – und wahrscheinlich noch viel mehr. Ich kenne nur ihr Gesicht (und auch das erst neuerdings) und bin gespannt, wohin sich unsere Bekanntschaft noch so entwickelt.

Kennen

Wer außer mir kennt mehr als die Spitze meiner Persönlichkeit? `Wenn die wüssten´, habe ich kürzlich geschrieben; `wenn der wüsste´, denke ich manchmal sogar meinem Mann gegenüber. Niemand weiß, wie wütend ich innerlich sein kann; meine kindliche Naivität ist mir manchmal peinlich; und für `so macht man das´ fehlt mir oft die Sicherheit. Vollkommen ehrlich bin ich nur vor Jesus, der mich ohnehin kennt: „Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne“, sagt David im Psalm 139 (Vers 2) und gleich danach: „Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest.“ (Vers 4) Er spricht mir aus der Seele.

Eine Frau aus der Gemeinde bringt mir eine Kleinigkeit für Weihnachten. Durchs Papier hindurch spüre ich, was es ist. Ich lächle sie an, sie lächelt zurück. Wir wissen beide, worum es sich handelt – es ist ein kleiner Kalender mit Zitaten von Dietrich Bonhoeffer. Letztes Jahr zu Weihnachten hatte sie mir ebenso einen geschenkt. Diese Frau hört genau hin und hat ein gutes Gedächtnis. Daher weiß sie, dass ich diesen Mann sehr schätze – und noch einiges mehr. Sie würde wahrscheinlich niemals behaupten, mich `gut zu kennen´, aber sie trifft mit ihren Worten und Geschenken ziemlich oft ins Schwarze.

Verborgen

Ich kenne meine Kinder gut. Denke ich. Ich kenne sie schließlich schon ihr Leben lang und bin noch viel mit ihnen zusammen. Größtenteils durch meine Zuwendung sind sie zu dem geworden, was sie heute sind. Einige ihrer Eigenarten und Angewohnheiten leben sie nur in Familie aus. Grund dafür sind das Vertrauen und die besondere Wahrhaftigkeit, die innerhalb von Familie existieren: Es gibt Teile ihrer Persönlichkeit, die teilen unsere Kinder explizit lieber (oder sogar nur) mit uns Eltern und Geschwistern als mit anderen. Kenne ich sie also gut?

Kürzlich kam ich ins Wohnzimmer und es lief Musik, ziemlich laut. Das ist an sich nicht ungewöhnlich und wunderte mich nicht. Dass aber einer meiner Söhne ohne Text- oder Melodie-Unsicherheiten mitsang – überraschte mich. Dass er sich noch dazu mit ausgeprägtem Rhythmus-Gefühl sehr geschmeidig bewegte – ließ mich staunen. SO hatte ich ihn noch nie wahrgenommen, DIESE Seite an ihm war mir bislang verborgen.

Ich ahnte zwar, dass meine Kindern sich bei Feiern und unter Gleichaltrigen anders benehmen als zu Hause. Klar. Jetzt weiß ich, dass sie Teile ihrer Persönlichkeit explizit lieber (oder sogar nur) mit anderen teilen als mit uns.

Das Zusammenleben mit Kindern ist wie ein Abschiednehmen auf Raten. Ich bin dankbar, wenn ich einen kleinen Teil davon wahrnehme, wer und wie sie außerhalb und unabhängig von der elterlichen Obhut sind. Der größere Teil bleibt mir zunehmend verborgen: Mein Kind, das unbekannte Wesen.

Kennen

Jemanden kennen – was heißt das? Kürzlich habe ich mich gefragt, was es heißt, jemanden zu kennen. Unsere große, erweiterte Familie kenne ich – diverse Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins, teilweise mit Partnern und jedes Jahr mit einigen Kindern mehr. Aber – kenne ich sie wirklich? Wir treffen uns einmal im Jahr, immer sehr schön, immer im Hotel. Ich habe noch kaum jemand von ihnen in seinen eigenen vier Wänden besucht, umgekehrt ebenso. Eine Wohnung würde etwas mehr Aufschluss geben über die Persönlichkeit. Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist – stimmt das?

Ich bin ein Wortmensch, ich glaube, Menschen trifft man erst wirklich, wenn man mit ihnen redet, Gedanken mit ihnen teilt. Was genau zur Sprache kommt und wie ehrlich, das ist die nächste Frage und der nächste Schritt; einen Anfang kann man mit einem Gespräch aber schon machen. Ein Onkel meines Mannes ist kürzlich gestorben; in einigen Nachrufen erfuhr ich posthum mehr von ihm als in den 18 Jahren zuvor. Schade, er war ein stilles Wasser. Weil ich ihn aber nicht kannte, weil ich kaum mit ihm geredet habe, ist der Verlust, den ich spüre, begrenzt.