Brief an meine Freundin

Wir werden beide älter: Es dauert alles etwas länger, manche Dinge sind uns inzwischen zu anstrengend. Du schaust mich an und sagst, du könntest zum Beispiel nicht joggen gehen – wie ich. Ich schaue dich an und sage, ich könnte nicht den ganzen Tag im Stall arbeiten, nebenbei ein Zimmer renovieren und mittags pünktlich das Essen auf dem Tisch haben – wie du.

Ich kann manches, was du nicht könntest; und du kannst eine Menge, was ich nicht könnte. Dabei würden wir beide fast alles lernen oder uns daran gewöhnen, wenn wir es einübten. Es gibt für alles ein erstes Mal, und das ist immer ungewohnt und anstrengend. Mit der Zeit wird man besser, bekommt Routine und erledigt das Gelernte mit weniger Anstrengung als am Anfang.

Zwischen `ich kann´ und `du könntest nicht´ liegt also nur eine Zeit des Übens – in unserem Fall sind es zwei verschiedene Lebensstile. Der eine ist nicht besser als der andere: Du bewunderst mich vielleicht; ich bewundere dich auf jeden Fall!

Alles relativ

Was ich kann und was nicht, ist letztlich sehr beliebig und von vielen Faktoren abhängig. Nicht nur die eigene Sicht (halb volles oder halb leeres Glas), sondern auch die persönliche Tendenz (Angeber oder Tiefstapler) spielen eine Rolle. Ganz entscheidend ist auch der Moment – lerne ich etwas neu oder schon lange:

Vor allem ganz am Anfang macht man relativ große Fortschritte und ist mit diesen sehr zufrieden. Schon nach dem ersten Fußballtraining, dem ersten Klavierunterricht, dem ersten Tanzstunden-Abend denken wir: „Das klappt doch schon ganz gut“, was gut ist – so starten wir überhaupt und bleiben über den langen Zeitraum motiviert, den es braucht, eine Sache zu meistern. So lernen Kinder laufen und sprechen, so wird aus einer Kicker-Gurkentruppe eine erfolgreiche Fußballmannschaft und aus einem Klavier spielenden Fünfjährigen – vielleicht einmal – ein guter Pianist …

Je besser man eine Sache beherrscht, umso geringer und schlechter wahrnehmbar sind die persönlichen Fortschritte. Und je tiefer man in eine Sache einsteigt, umso klarer sieht man seine eigenen Defizite. Der Maßstab für „sehr gut“ verschiebt sich dann proportional dazu, wie sich die eigenen Fähigkeiten erweitern. Das ist herausfordernd – normalerweise kommen wir nicht an bei „sehr gut“, weil wir immer auch merken, was noch nicht so gut geht. Wir müssen dann aufpassen, dass wir bei allen Defiziten nicht übersehen, was wir doch schon können und wissen. Manchmal kann es hilfreich sein, zurückzuschauen – oder jemandem zu begegnen, der am Anfang steht. Ist eben alles relativ…