Aufschieberitis und ihre Folgen

Eine meiner Töchter verschiebt Schul-Aufgaben gern nach hinten, wenn sie andere wichtige Dinge zu tun hat – also eigentlich fast immer. Am Ende gerät sie dann regelmäßig unter Zeitdruck und muss last minute alles geben. In Sachen Zeitmanagement besteht noch Luft nach oben. Ich als Mutter weiß, dass sie daran wahrscheinlich nur dann etwas ändert, wenn es zu unbequem wird: wenn sie merkt, dass sich die Suppe nur schwer auslöffeln lässt, die sie sich eingebrockt hat. Von daher wäre es aus erzieherischer Sicht konsequenter, meine Tochter mit den Folgen ihres Handelns allein zu lassen.

Dennoch gab es unlängst wieder einen Fall, bei dem ich unterstützend zum Löffel gegriffen habe – sozusagen: Ich half ihr beim Korrekturlesen ihrer Facharbeit, nur Stunden vor der fälligen Abgabe. Pädagogisch war das vielleicht unklug, auf der Beziehungsebene meinem Empfinden nach weise. Manchmal bin ich als Mutter lieber barmherzig als belehrend – wissend, dass eine andere wichtige Lektion fürs Leben dadurch besser hängenbleibt: Zugewandte Gnade ist eine liebevolle Alternative zu distanzierter Konsequenz – und wahrscheinlich oft eindrücklicher.

Seine Gnade

„Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“
2. Korinther 12, 9

Für mich stand in dem Vers immer die Gnade im Vordergrund: Wenn mein eigenes Versagen übermächtig scheint, fühle ich mich klein, unbedeutend und unfähig. Ich bin entmutigt und ohne Schwung, traurig und resigniert. Das Einzige, was in solchen Momenten trösten und ermutigen kann, ist Vergebung – Gnade. Sie vertreibt Scham und Selbstverdammnis.

Vor ein paar Tagen wurde mir klar, dass die Betonung auf Gottes Gnade liegt. Natürlich lege ich Wert auf Anerkennung, Wertschätzung und meinen guten Ruf bei den Menschen. Das ist nicht per se schlecht; es darf nur nicht in den Vordergrund rücken. Denn: Entscheidend ist Gottes Vergebung. Das Einzige, das mich wirklich rettet, ist seine Gnade. Und die greift auch dann, wenn kein Mensch mehr auf meiner Seite steht.

Gott will ich gefallen, nicht den Menschen – auch wenn mir die Menschen oft näher sind, ihre Akzeptanz offensichtlicher, ihre Wut spürbarer. Es kann sein, dass meine Handlungen sowohl bei Gott als auch bei Menschen auf Wohlwollen stoßen. Wenn dem nicht so ist, will ich mich für Gottes Gnade entscheiden.

Von Zebrastreifen und Rechtsabbiegern

„Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“
1. Korinther 15, 10

Mir nahm heute eine Autofahrerin den Schwung und die Vorfahrt und schnitt mir den Weg ab: Sie bog rechts ab, ich war geradeaus unterwegs und musste bremsen. Ich hatte es schon eine Millisekunde vorher geahnt, denn sie schaute nicht nach hinten und reduzierte nicht die Geschwindigkeit. Ich war vorbereitet und konnte abbremsen. Lächelnd (weil dankbar) fuhr ich weiter. Warum lächelnd? Weil ich weiß, dass solche Fehler passieren können:

Mit unserem Auto überfuhr ich einmal völlig in Gedanken versunken einen Zebrastreifen. An der Seite stand eine Frau mit Kinderwagen und wartete darauf, dass ich anhalten würde – vergeblich. Meine Augen hatten die Frau gesehen, aber mein Gehirn nicht. Im Gehirn wäre die Entscheidung fürs Bremsen gefallen, Augen können das nicht.

Ich übersah auch schon einmal jemanden, als ich rechts abbog. Vielleicht schaute ich zu flüchtig oder auch gar nicht über meine Schulter; Fakt ist, dass ein Fahrradfahrer meinetwegen bremsen musste.

Ich weiß, wie es ist, wenn man beim Autofahren Fehler macht, die nicht passieren sollten. Sie sind mir unterlaufen, obwohl ich keine besonders übermütige Fahrerin bin und schon lange meinen Führerschein besitze. Vielleicht ärgerte sich die Mutter mit Kinderwagen, der Radfahrer tat es sicherlich. Mir selbst waren die zwei Ereignisse vor allem peinlich – auch weil sie keine schlimmen Folgen nach sich zogen: Die beiden Leute landeten nicht unter meinem Auto. Das war nicht mein Verdienst; man könnte sagen, es war Glück. Ich würde sagen: Das war Gnade.

Sicher gab es noch andere Situationen, in denen eine Unachtsamkeit von mir nicht in einem Schaden für andere endete. Ich registriere nicht alle meine Fehler. Das ist auch Gnade.