Vom Gendern

Die korrekte Anrede ist derzeit ein höchst umstrittenes Thema: Die einen finden sie unabdingbar, den anderen geht sie auf den Keks. Der Gedanke dahinter scheint berechtigt: Menschen sichtbar machen, die sonst nicht gesehen werden. Ob das jedoch dadurch geschieht, dass man jeden ganz genau richtig anredet – ich bezweifle es. Persönlich halte ich das Gendern in den meisten Fällen für ein Luxusproblem von Menschen, die keine echten Probleme haben. 

Natürlich wird niemand gern übergangen. Und keiner möchte in eine Schublade gestopft werden, in die er nicht zu gehören meint – auch klar. Aber es ist meiner Meinung nach keine gute Idee, deswegen für jeden eine eigene Schublade einzurichten. Als wäre das Schlimmste, was uns passieren kann, dass wir im öffentlichen Sprachgebrauch zu einer großen Menge gehören – oder in ihr untergehen. Wer so denkt, hat den Kern menschlichen Zusammenlebens nicht verstanden: Viele schwache Individuen profitieren idealerweise davon, Teil einer starken Gemeinschaft zu sein.

Ob der Einzelne gesehen wird, hat wenig zu tun mit der korrekten Anrede auf einem Briefkopf oder in den Nachrichten, im Gegenteil: Diese bemühte Anpassung der Sprache – letztlich gegen den Wunsch einer großen Mehrheit – erweist der Integration der betroffenen Minderheit einen Bärendienst. Menschen individuell gerecht zu werden findet im persönlichen Miteinander statt: andere ernst nehmen (wie abgefahren auch immer sie mir vorkommen), respektvoll zuhören, Rücksicht nehmen, nachfragen, Interesse zeigen …