Ein Gespräch

Freunde bringen uns nach Hause und fragen während der Fahrt, wie es denn sei, wenn die Kinder das Haus verlassen. (Sie sind deutlich jünger und ihre Kinder auch.) Mein Mann meint, ich solle anfangen und die weibliche Sicht schildern. Ich erzähle also von meinen Ambivalenzen:

Wie sehr – und im Nachhinein wie schnell – sich die Beziehung zu Kindern verändert: Von totaler Abhängigkeit über vorsichtige und deutliche Abgrenzung hin zu jungen Menschen, die lebenstauglich in ihr eigenes Leben starten. 
Wie es gerade mich als Vollzeit Mutter schmerzt, dass die Familie sich in gewisser Weise auflöst.
Wie stolz ich bin darauf, was die Heranwachsenden sich zutrauen, dass sie sich rauswagen und selbstständig werden.
Wie schön es ist, dass sie noch gern zu uns nach Hause kommen – ab und zu am Wochenende.

Inzwischen sind wir fast bei uns angekommen; für die männliche Sicht bleibt zeitlich nur noch die Länge unserer Straße. „Reicht mir“, sagt mein Mann und: „Ich finde es gut, dass sie ausziehen und sich selbst kümmern müssen – um die Wäsche, den Haushalt, das Essen, die Finanzen. Außerdem bekomme ich nicht mehr alles mit, was sie machen. Das ist auch gut; es ist ihr Leben.“

Als wir uns verabschieden, lächeln unsere Freunde und bedanken sich, dass wir erzählt haben – eine ausführlich, der andere kurz und knapp.

Gespräch, fortlaufend und improvisiert

Die Kundin vor mir packt ihre Waren ein und spricht nebenbei mit der Kassiererin – es geht um Urlaub. Die Frau an der Kasse hatte schon im Juni ein paar Tage frei und wird im September nach Usedom fahren. Sie würden die Räder mitnehmen, sagt sie und: „Hauptsache trocken.“ Mittlerweile bin ich aufgerückt und erwähne, dass sich das Wetter an der See ja immer sehr schnell ändern würde, manchmal auch zum Guten.

Die Kundin vor mir zieht los; das Gespräch läuft weiter. Ich erwähne unsere diesjährige Route nach Rügen. „Wir fahren auch immer so“, sagt die Kassiererin, „bis Ludwigslust auf der Landstraße, dann weiter auf der A20.“ Das sei so entspannt. Ich nicke und bezahle. Die Kundin nach mir schaltet sich ein und sagt, dass man bis Ludwigslust erstmal kommen müsse.

Was noch gesagt wird, höre ich nicht mehr; ich steige aus. Das Gespräch läuft weiter – mit einer gewissen Eigendynamik. Es ist ein bisschen wie im Improvisations-Theater: mit der Kassiererin als dem einzigen festen Ensemblemitglied.

Aus-gesprochen

Ich mache Feierabend und treffe vor dem Büro eine Bekannte. 20 Minuten und ein Gespräch später sehe ich vor der gegenüberliegenden Drogerie den ehemaligen Fußballtrainer meines Sohnes mit seinen Kindern. Wieder 20 Minuten später kommt seine Frau – und ich steige endlich aufs Rad. Auf dem Weg nach Hause überhole ich einen Lehrer meiner Tochter und begleite ihn bis vor sein Gartentor: weitere 20 Minuten, die ich in angeregtem Gespräch verbringe. Zu Hause rolle ich dadurch fast zeitgleich mit meiner Freundin auf den Hof; wir sind verabredet: zu Gespräch und Gebet. Nach zwei Stunden verabschieden wir uns – und mein Telefon klingelt. Ach, ja, ich will ja mit meiner Freundin in England telefonieren! Anderthalb Stunden später legen wir auf: Sie muss kochen. Während unseres Abendbrots berichte ich meinem Mann `aus aller Welt´. Danach bin ich leergeredet und beginne mit einem ausgiebigen Schweigen!

Ein Gespräch

Ein Gespräch ist per Definition, wenn Menschen miteinander kommunizieren. Im Idealfall reden alle Beteiligten ähnlich viel; im Normalfall trifft das aber nicht zu. „Vielen Dank für das schöne Gespräch!“ sagte kürzlich eine Frau zu meinem Mann – nur dass dieser nach eigener Einschätzung kaum zu Wort kam. Er ist einer von den Stilleren: Sein Redeanteil liegt meist bei unter 30 Prozent. Verglichen mit ihm sind die meisten anderen Vielredner – eine Klasse für sich, nicht homogen:
Einige von ihnen reden zwar viel, aber interessant und inspirierend. Außerdem beziehen sie ihr Gegenüber bei aller Rederei mit ein und beleben das `Gespräch´. Ohne sie gäbe es manche unangenehmen Schweige-Momente.
Andere Leute wiederum reden viel, verlieren sich aber im Detail und gelten schlimmstenfalls als Langweiler. Sie hören nur sich selbst: Was die anderen zu sagen haben, prallt buchstäblich auf taube Ohren.
In der dritten Gruppen der Vielredner sind Piraten: Sie kapern jeden Redebeitrag ihres Gegenübers und nutzen ihn als Aufhänger, um zu sagen, was ihnen selbst wichtig ist. Bei uns gilt dieses Vorgehen als die `feindliche Übernahme eines Gesprächsstranges´. Dagegen sind die meisten anderen nahezu chancenlos. Ob trotzdem Kommunikation stattfindet, hängt ganz davon ab, wie man `Gespräch´ definiert.

Wer was wie was wo?

„… das hat er dann aber nicht gemacht!“, beendet mein Mann beim Reinkommen unser Gespräch. Unsere Tochter geht gerade die Treppe hoch und hakt sofort nach: „Wer hat was nicht gemacht?“ Wir müssen beide lächeln, denn das kommt regelmäßig vor: Eins der Kinder schnappt nur den Rest einer Unterhaltung auf und möchte wissen, worum es ging. Wir erklären kurz, über wen und was wir gesprochen haben – zu kurz aus Kinder-Sicht: „Äh, warum, wie jetzt?“ Letztlich endet es damit, dass wir nach und nach alles wiederholen. Meist ist es nicht geheim, worüber wir sprechen, für die Kinder jedoch belanglos. Aber das wissen sie ja vorher nicht! Unser ehrliches „Es ist nicht so wichtig!“ verstärkt deshalb nur die Neugier. Erst nachher, wenn `wer – was – wie – was – wo?´ befriedigend geklärt ist, verfliegt ihr Interesse sehr zügig. Aber dann haben wir schon deutlich länger über etwas gesprochen, was von Anfang an nicht besonders wichtig war.

Vom Wie des Was

Ein Bekannter berichtete von einem Seminar zum Thema Gesprächsführung und Konfliktlösung. Zur Anwendung kam das Modell des sogenannten Kommunikationsquadrats. Zu diesem gehören:
der Sachinhalt (worüber ich informieren will),
der Beziehungshinweis (wie stehe ich zu dir, was halte ich von dir)
der Appell (was will ich dir damit sagen)
und die Selbstkundgabe (was will ich von mir offenbaren).
Jeder sendet auf diesen vier Kanälen; jeder empfängt auch auf diesen vier Kanälen. Die Chance für Missverständnisse (und Konflikte) liegt – rein rechnerisch – bei 16.

Selbstkundgabe: Das Wort klingt hölzern und ein bisschen nach `wichtig´: „He, Leute, hört her – ich sage euch jetzt, was mit mir los ist. Dann müsst ihr nicht spekulieren, sondern wisst genau, woran ihr mit mir seid.“ In der Tat soll die Selbstkundgabe den Ist-Zustand so konkret wie möglich und so umfassend wie nötig beschreiben – um Spekulationen und Unterstellungen zu vermeiden. Ziel ist es, mögliche Missverständnisse (und Konflikte) auf ein Minimum zu reduzieren.

Aber „rein rechnerisch“ ist nicht alles. Denn es bleibt die Frage, ob Selbstkundgabe das Miteinander tatsächlich erleichtert oder vielleicht sogar erschwert. Die Antwort hängt auch davon ab, wie viel der Einzelne sagt und wie interessant und verständlich er formuliert. Ich mag noch so gut informiert werden: Wenn mir die Selbstkundgabe meines Gegenübers auf den Keks geht, wird das Gespräch durch sie nicht in konfliktarme Gewässer geleitet. Es geht also – wie so oft – fast mehr um das WIE als um das WAS.

Dynamik

Ohne Gespräch sind Beziehungen schwierig bis unmöglich; aber manchmal entwickeln Worte eine ungeplante Dynamik.

Der Ton macht die Musik, sagt man, und es stimmt: Es geht laut, leise, genervt, gelangweilt, begeistert, mitreißend, wütend, entspannt, verständnis- oder auch vorwurfsvoll … Auch der Zeitpunkt ist nicht unerheblich: Kurz vor dem Schlafengehen oder zwischen Tür und Angel sind nicht die günstigsten Gelegenheiten für schwierige Themen. Zudem gibt es noch einen feinen Unterschied zwischen gesagt und gemeint: „Ich mag nicht kochen“, kann heißen „Ich würde mich freuen, wenn du kochst!“ Wird es aber nicht so verstanden, ist nur einer glücklich. Last but not least: Nicht jedes wahre Wort muss raus. Alte Kamellen auszubuddeln, wenn man gerade kontrovers diskutiert, ist selten eine gute Idee.

Eine weitere überraschende Stolperfalle für die an sich unschuldige Kommunikation sind persönlichkeitsbedingte Grenzen der Kompatibilität. Ich erzähle – und habe ein Ziel: Ich will informieren, suche nach Rat oder möchte verstanden werden. Mein Gegenüber hört zu – und hat auch ein Ziel: Es will informiert werden, mir helfen, einen Rat oder eine eigene Geschichte loswerden. Nicht immer passen beide Ziele zueinander, und leider bin ich in solchen Dingen ziemlich unflexibel. Nehmen wir mal an, ich will gehört und verstanden werden. Nehmen wir weiter an, ich werde gehört und nicht verstanden, mein Gegenüber hat aber einen – aus seiner Sicht – guten Rat. Dann ist meine Reaktion bisweilen ein unwilliges „Will ich gar nicht hören, lass mich in Ruhe“. Die Gesprächsscherben wieder aufzusammeln, kann eine mühselige und zeitraubende Arbeit sein. Das schafft keiner allein. Ohne Beziehung ist Gespräch dann schwierig bis unmöglich. Aber manchmal entwickeln Beziehungen ja auch eine ungeplante Dynamik – und funktionieren phasenweise nonverbal. Nicht immer, aber ab und zu kann man dann nochmal neu anfangen mit dem Reden. Welch ein Glück!

Aufwand und Nutzen

Mein Mann und ich fahren zu einer Geburtstagsfeier in eine Stadt, die 450 Kilometer entfernt von uns liegt. In ihr haben wir beide vor über 20 Jahren gewohnt, es leben noch Freunde dort. Mittlerweile kommen wir selten dahin, sehr selten: Der Geburtstag ist ein guter Anlass, alte Weggefährten mal wieder persönlich zu treffen.

Insgesamt sind wir etwa 30 Stunden weg, von denen sitzen wir neuneinhalb im Auto – wir sind gut durchgekommen. Dennoch ist die Fahrt anstrengend: Da die Infrastruktur in Deutschland nicht im besten Zustand ist, wird an vielen Stellen an ihr herumgewerkelt.

Viereinhalb Stunden „dauert“ die Feier. Wir treffen alte Bekannte wieder und Menschen, die wir noch gar nicht kennen. Die Gespräche sind unterschiedlich intensiv, erfordern aber alle auf ihre Art unsere Aufmerksamkeit und Initiative. Mit dem Geburtstagskind haben wir am wenigsten zu tun; allerdings hatten wir das vorher geahnt.

Sechs Stunden schlafen wir – eindeutig zu wenig, aber mehr ist einfach nicht drin.

Die restlichen zehn Stunden sind wir zu Besuch und im Gespräch mit einem Freund, bei dem wir übernachten können. Anfangs müssen wir uns herantasten, wir haben uns lange nicht gesehen. Am Ende sind zehn Stunden nicht genug.

Vom Verstand her ist es ein immenser Aufwand für ein paar Stunden Zusammensein.

Vom Gefühl her hat es den Beziehungen zu unseren Freunden genutzt, dass wir uns mal wieder persönlich begegnet sind.

Gesprächsfluss

Mein großer Sohn ist ein guter Beobachter, sensibel noch dazu. Nach einer von ihm beobachteten Begegnung bemerkte er kürzlich: „Papa, wenn du immer `Warum?´ fragst mittendrin, dann unterbricht das den Gesprächsfluss. Du kannst doch einfach mal zuhören und nicken – auch wenn der andere Mist erzählt.“ Er hat recht, Nachfragen unterbrechen den Gesprächsfluss. Und in dem speziellen Fall war der Gesprächspartner einer, den der Einwurf `Warum siehst du das so? Ich sehe das anders.´ aus dem Konzept gebracht und verunsichert hat.

Wie geht es mir damit? Ich wünsche mir eine ehrliche Reaktion. Ich wünsche mir aber auch eine mir angenehme, liebevolle Reaktion. Eine Bestätigung meiner Kommentare ist angenehm. Aber ist das `Lass sie nur reden …´ in den Gedanken meines Gegenübers wirklich liebevoll? Auch wenn ich es nicht mitbekomme? Will ich es immer wissen, wenn ich Quatsch erzähle, gedankenlos daherrede, unüberlegt (und vielleicht unbewusst) beurteile?

Von Sokrates stammt der Rat, dass alles, was gesagt wird, durch drei Siebe gehen soll: Ist es wahr, ist es gut, ist es nötig? Das ist sicher eine hilfreiche Richtlinie für jedes Gespräch. Nur: Was mache ich, wenn wahr und gut einander auszuschließen scheinen? Wenn der andere meine gütige Zurechtweisung gar nicht als gut empfinden kann, sondern sich zurückgewiesen und nicht wertgeschätzt fühlt? Dann muss ich ihn vielleicht einfach mal in den Arm nehmen.

Was wir in Gesprächen finden – manchmal

„Ein jeder hat zuerst in seiner Sache recht; kommt aber der andere zu Wort, findet sich´s.“
Sprüche 18, 17

Findet sich`s? Das kann ich nicht bestätigen. Solange ich mich nur mit mir selbst unterhalte – vielleicht. Da habe ich recht, ist alles logisch und ganz einfach. Sobald ich anderen Gesprächszeit einräume, wird es komplizierter. Da wird widersprochen, unangreifbar argumentiert, aus einem mir fremden Blickwinkel betrachtet oder einfach aneinander vorbei geredet. Da findet sich dann gar nichts mehr – am wenigstens ein gemeinsamer Nenner.

Gute Kommunikation ist kein Selbstläufer, jedenfalls nicht bei uns im Haus: Wir provozieren, was das Zeug hält, geben nur ungern nach, unterbrechen lautstark und oft. Von „findet sich´s“ keine Spur. Erst nach langer Suche und erbitterten Kämpfen kommen Einigungen zustande: „Geh endlich raus aus meinem Zimmer!“ „Warum?“ „Geh einfach raus!“

Aber auch wir erleben Sternstunden. Eine unserer Töchter, die Kaninchenbesitzerin, geht nicht so gern allein in den Keller und noch weniger gern im Dunkeln raus zum letzten Füttern. „Kommt einer mit?“, fragt sie dann. Es kann Streit gegeben haben vorher oder auch gleichgültiges Stillschweigen. Einer geht immer mit, keiner lacht sie aus, keiner überlässt sie ihrer Angst – da findet sich´s dann doch: Die Liebe zu ihr, das Verständnis für sie, die Hilfe in ihrer Not: „Los, ich komm´ mit!“