Wunderbares Auge

„Ein hörendes Ohr und ein sehendes Auge, die macht beide der Herr.“
Sprüche 20, 12

Bei einem morgendlichen Gang über die Felder kommt die Sonne direkt von vorn und blendet mich. Ich kann den Weg vor mir trotzdem gut erkennen: Meine Augenlider sorgen für ein wenig Schatten; die Pupillen lassen genau die richtige Menge Licht durch. 

Würde ich die Szene fotografieren wollen, hier und jetzt: Es fiele mir nicht so leicht. Ich müsste mich anstrengen, damit das Foto dem Original möglichst ähnlich würde – und herumstellen an Lichtempfindlichkeit, Belichtungszeit und Brennweite. Oder aber mir gelingt ein Zufallstreffer.

Mein Auge dagegen scheint sich nicht anstrengen zu müssen: Es stellt sich – von mir unbemerkt und unbeeinflusst – blitzschnell ein auf wechselndes Licht, verschiedene Entfernungen oder Bewegung.

„Kommt her und sehet an die Werke Gottes, der so wunderbar ist in seinem Tun an den Menschenkindern.“
Psalm 66, 5

Bearbeitet

Fotos spiegeln manchmal höchst unbarmherzig die Wahrheit wieder. Bei der heutigen Qualität bleibt keine Falte glatt, keine Unreinheit verborgen. Trotzdem sind Fotos toll: Ein Bild fängt eben manchmal auch einen besonders schönen Moment ein. Da ist man „gut getroffen“ oder der Augenblick festgehalten, der sonst nach einer Sekunde schon wieder Geschichte wäre. Mit einem solchen Foto kann man sich noch Jahre später gut an Situationen erinnern und daran, wie man mal ausgesehen hat.

Manchmal sehe ich allerdings Fotos – zum Beispiel auf Einladungskarten -, die nicht die Wahrheit zeigen. Letztens flatterte meiner Tochter eine solche ins Haus. Die einladende junge Frau sah gut aus, fast schon makellos schön, vor allem irgendwie zeitlos: nicht schätzbares Alter. Sie war mir unbekannt – dachte ich. Später stellte sich heraus, dass ich das Mädchen nur nicht erkannte, aber durchaus kenne. Das Foto war bearbeitet. Wenn man sich dieses später ansieht, erinnert man sich auch gut an das dazugehörige Ereignis und daran, wie man gern ausgesehen hätte.