Eine Frage der Einschätzung

Berufstätige Frauen und Frauen, die Karriere machen – fortschrittlich.

Nicht berufstätige Männer, die zu Hause bleiben und ihren Frauen für den Beruf den Rücken freihalten – fortschrittlich.

Männer und Frauen, die sich Berufstätigkeit und häusliche Aufgaben paritätisch teilen – fortschrittlich.

Nicht berufstätige Frauen, die zu Hause bleiben und ihren Männern für den Beruf den Rücken freihalten – altmodisch.

Ich finde diese oft unausgesprochene Einschätzung seltsam, vielleicht sogar paradox – aber sicher nur, weil ich zur letzten Gruppe gehöre.

Fremdeinschätzung erwünscht – aber bitte freundlich!

Ich habe ein ganz bestimmtes Bild von mir, insgesamt positiv – klar, aber in gewissen Aspekten auch kritisch. In manchen Situationen hätte ich mich gern anders – geduldiger, sanfter, nachgiebiger, fröhlicher, zufriedener…

Andere haben auch ein Bild von mir, insgesamt positiv – hoffentlich, aber in gewissen Aspekten auch kritisch. Ihre Kritikpunkte weichen von meinen eigenen ab. Je näher mir die Menschen stehen, umso mehr entspricht ihr Bild von mir wohl der Wahrheit. Das heißt nicht, dass es meiner eigenen Wahrnehmung entsprechen muss. Selbst- und Fremdwahrnehmung sind nicht deckungsgleich. Das ist normal. Interessant ist, was welche Abweichung in mir auslöst:

Schneide ich bei anderen positiver ab als bei mir selbst, bin ich dankbar für die Rückmeldung und froh. Ich stelle die Wahrhaftigkeit der Beobachtung nicht wirklich in Frage, auch wenn ich mich kaum wiedererkenne. Solange andere mich netter (freundlicher, geduldiger, liebenswürdiger…) finden als ich mich selbst – alles gut.

Hält mein Gegenüber mich für weniger nett (freundlich, geduldig, liebenswürdig…) als ich mich selbst, ärgere ich mich und bin vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt der Einschätzung nicht unbedingt überzeugt. „Das kann doch wohl nicht wahr sein“, denke ich, „dass der/die mich so sieht (und mir das auch noch sagt)!“ Ich schneide nicht gut ab und erkenne mich kaum wieder.

Was mache ich mit solch einer kritischen Einschätzung? Emotionen helfen nicht weiter – leider, davon habe ich in diesem Fall immer eine Menge zu bieten (Wut und Frust in diversen Schattierungen). Auch mein Verstand scheint umwölkt; ohne meine subjektive Brille kann ich schlecht sehen. Toll wäre – ganz objektiv sortieren: Was kann ich teilen, was nicht? Welche Kritik ist berechtigt, welche nicht nachvollziehbar? Jemand, der mir nahesteht, will mich in der Regel nicht runtermachen, oder? Also kritisiert er, was er kritisiert, um??? Mich zu korrigieren, mir die Augen zu öffnen, mir zu helfen beim Mensch-Sein. Ich will das – ja! Aber ich dachte vorher, es würde schmeichelhafter für mich ausfallen.