Ehrlich wohlwollend

„Kann man mich anders als wohlwollend ansehen?“, frage ich meine Freundin; sie lacht schallend und stimmt mir vorbehaltlos zu. Bisweilen korrigiert und kritisiert sie mich auch, aber heute ist etwas anderes wichtiger.

Ich bin total dankbar für unsere Freundschaft; wir begegnen uns wohlwollend und können sehr ehrlich miteinander sein – manchmal auch ganz unbescheiden.

Ehrlich gesagt – psst!

„Wer immer tut, was er schon kann, bleibt immer das, was er schon ist“ soll Henry Ford gesagt haben. Der Satz klingt irgendwie gut und schick und motivierend und was sonst noch, denn: Wer will sich nicht weiterentwickeln, dazulernen, körperlich und geistig agil bleiben und so weiter? Ich weiß inzwischen, dass meine eigene Fähigkeit und Motivation, immer nach vorn zu denken, begrenzt ist. Es gibt Dinge, die kann und will ich zur Zeit nicht lernen: Chinesisch zum Beispiel, Handtaschen verkaufen oder Steuerberatung. Möglicherweise werde ich das in Zukunft irgendwann noch einmal anders sehen – wer weiß, wozu ich eine der drei Fähigkeiten noch einmal benötigen werde. Momentan jedoch fehlt mir für diese und ein paar andere Dinge die Motivation (etwas lernen wollen) und damit genau das, was fürs Lernen-Können unabdingbar ist.

Wie schön sich der zitierte Satz auch als Lebensmotto eignen würde, wie sehr ich diejenigen insgeheim bewundere, die ihn sich als Wandtattoo ins Wohnzimmer kleben: Wenn ich ganz ehrlich bin (und fast schäme ich mich dafür), trifft er auf mich wohl eher nicht zu. In vielerlei Hinsicht bin ich ganz zufrieden mit meinem Status quo – was nicht heißt, dass ich mich gar nicht weiterentwickeln möchte. Aber dieses Wollen hat eben Grenzen, hatte es schon immer: Ich beschäftige mich seit vielen Jahren (mehr oder weniger bewusst) hauptsächlich mit dem, was mich ohnehin interessiert. Kurze Ausflüge in andere Welten (Spanisch und Französisch, Inline-Skaten, Reiten, Kraulschwimmen …) blieben genau das: kurze Ausflüge, ohne langfristigen Erfolg. Mir fehlten Zeit und Vermögen, Geduld und letztlich die Ausdauer, mich diesen Dingen zu widmen. Zu sehr war ich damit beschäftigt, mich in das zu investieren, was mir am Herzen lag und wozu ich mich berufen fühlte: Dadurch bin ich wahrscheinlich noch immer die, die ich schon immer war – allerdings in weiterentwickelter Form … 

Ehrlich gesagt

„Trägst du die schon seit Weihnachten?“, fragt mich eine Bekannte, als sie meine Gesichtsmaske mit Weihnachtsmotiven sieht – und schaut mich leicht verwundert (vielleicht auch entsetzt) an. Ich kann sie beruhigen: Seit Weihnachten trage ich sie nicht; erst seit Februar oder März ist es eine von den vielen Masken, die ich parallel in Gebrauch habe. Ihr Gesichtsausdruck bleibt verhalten. Dass sie mir ja ohnehin nicht die Hand geben oder mir näher kommen darf, scheint ihr in meinem Fall ganz recht zu sein …

Als ob sich einer im täglichen Gebrauch an die Hygienevorschriften hält, mit denen wir vor einem Jahr ins Maskentragen eingewiesen wurden. ICH jedenfalls benutze die Masken, die ich mir vor das Gesicht schnalle, NICHT korrekt: In jeder Jackentasche und in der Handtasche steckt eine von diesen Dingern – zu oft würde ich sie sonst vergessen.

Dementsprechend fasse ich die Maske auch nicht immer mit spitzen (oder gar frisch gewaschenen) Fingern und nur an den Ohrgummis an, transportiere sie nicht in sterilen Plastiktüten und wechsele sie mit großer Sicherheit seltener als vorgeschrieben. Ich tue das nicht, weil ich irgendwie protestieren möchte – das würde ja auch keiner merken. Ehrlich gesagt sind meine Beweggründe praktikabler Natur: Wenn ich Maske tragen muss, mache ich es so, wie es für mich am besten funktioniert, das ist alles.

Unverblümt

„Wir können uns zum Tee treffen – aber nur für ein Stündchen, möglichst am Nachmittag und erst nächste Woche.“ Das ist meine Antwort auf die Anfrage einer Bekannten. Daraufhin schreibt sie, sie schätze meine unverblümte Ehrlichkeit – und zieht ihre Anfrage zurück. Wenn ich Lust verspüren sollte, könne ich mich ja melden. Sie klingt verletzt, so, als hätte ich – unverblümt ehrlich – geschrieben, dass ich mich nicht treffen möchte. Ich bin verwirrt und antworte (unverblümt ehrlich), dass wir uns treffen können – für ein Stündchen, möglichst am Nachmittag und erst nächste Woche.

Es ist nicht so leicht mit der Ehrlichkeit, sie kann ebenso verletzen wie die Lüge.

Ab 50: ehrlich sein und aufhören

Eine Frau in der entfernten Verwandtschaft hat Geburtstag. Wir kennen uns schon lange – und doch kennen wir uns kaum. Jedes Jahr schreibe ich ihr, noch nie habe ich eine Reaktion darauf bekommen, geschweige denn eine Karte. Dieses Mal fällt mir nichts ein, aber ich ringe mir trotzdem eine Karte ab.

Warum schreibe ich ihr überhaupt? Gute Frage. Dafür spricht: Sie gehört zu meinem Dunstkreis, und ich weiß, wann sie Geburtstag hat. Dagegen spricht: Ich kenne sie zu wenig, um ihr wirklich persönlich gratulieren zu können. Außerdem schätze ich, dass meine Karten ihr nichts bedeuten. Dennoch schreibe ich immer wieder. Noch. Vielleicht sollte ich damit aufhören: Es wäre ehrlicher.

Ganz ehrlich

Ich finde, ich kann nicht gut malen. Überhaupt nicht, ganz ehrlich. Pferde, Hunde, Katzen, Kühe und Schafe – alle sehen gleich aus. Häuser gehen, aber die Proportionen für die Fenster sind meist total unrealistisch. Ausmalen kann ich, das ist alles. Wenn ich meinen eigenen noch kleinen Kindern früher sagte, ich könne nicht gut malen, reagierten diese mit Empörung. Nach dem Motto: „Mama, wenn du nicht gut malen kannst, wie sehen meine Bilder dann aus?“ Verglichen mit einem kleinen Kind kann ich ein bisschen besser malen. Ihnen gegenüber zu behaupten, ich könne es gar nicht, hat sie entmutigt – also habe ich es nach einer Weile nicht mehr getan.

Mein Mann kann viel besser Mathe als ich, aber er sagt, er halte sich diesbezüglich für nicht sonderlich schlau. Er ist darin ganz ehrlich, aber mir tut diese Ehrlichkeit nicht gut: Sie lässt mich zweifeln, ob ich mein Mathe-Abi überhaupt verdient habe.

Letztens schrieb ich in einem Brief an eine ältere Dame ganz ehrlich, dass ich mein Alter spüre. Körperlich und geistig. Ich schrieb: „Ich bin in einer Lebensphase, in der Routine den Schwund an geistiger Beweglichkeit noch wettmacht; ich hoffe, ich merke, wenn dem nicht mehr so ist.“ Ich habe den Brief nicht abgeschickt. Ich horchte hinein in die 80-Jährige und wusste nicht, wie sie mit meiner ehrlichen Meinung zu mir selbst umgehen würde. Ob sie sich infrage gestellt fühlte ob ihres eigenen Alters und ihrer eigenen Geistesfrische.

Ganz ehrlich zu sein ist oft erfrischend und manchmal trotzdem nicht angebracht.