Einen alten Freund will ich besuchen. Er wohnt weit entfernt am anderen Ende von Deutschland – in der Nähe von zwei anderen alten Weggefährten. Ich fahre nicht gern so weit, raffe mich aber dennoch auf und frage alle drei, ob sie Zeit haben: `Damit es sich lohnt´. Voller Vorfreude fahre ich los. Zwei Begegnungen werden wunderbar – vertraut, belebend, die Freundschaften auffrischend. Das dritte Treffen verläuft unter erschwerten Bedingungen. Es ist ausgerechnet die Begegnung, der ich am meisten entgegen gefiebert hatte. Die Bilanz könnte trotzdem positiv sein; aber zunächst bin ich eher enttäuscht als dankbar. Das ist schade, aber so muss es nicht bleiben: Es liegt an mir, welchem Gefühl ich langfristig mehr Raum gebe – und wie sich das Wochenende in meiner Erinnerung anfühlen wird.
Blind und taub
„Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst sagen: `Sie gefallen mir nicht´; ehe die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden und Wolken wiederkommen nach dem Regen, … und wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leiser wird …“
Prediger 12, 1-2+4
„Betrifft mich nicht“, dachte ich noch vor ein paar Jahren, denn: „Wer schlecht sieht und kaum etwas hört, muss sehr alt sein.“ Heute bin ich zwar noch nicht sehr alt, aber jung auch nicht mehr. Viele Jahre konnte ich alles tun, was ich wollte, ohne ein Nachlassen meiner Kräfte oder Fähigkeiten zu spüren. Einige weitere Jahre hat mein Körper mit Erfahrung und Ausdauer kompensiert, was schwieriger wurde. Die Zeiten sind vorbei. Von mir unbemerkt bin ich angekommen in einem Alter, in dem manches nicht mehr geht: Verspannungen halten sich hartnäckig; in der ersten halben Stunde des Tages begleitet mich eine gewisse Steifheit. Der größte Unterschied zu früher ist jedoch, dass ich ohne Brille nicht mehr lesen kann. Die Baustelle meines Mannes ist eine andere. Seine Sehkraft ist nach wie vor brillant, dafür hört er ein bisschen weniger als früher.
Auf der Fahrt in den Urlaub platzt eine Tochter heraus mit: „Wen haben wir im Auto? – Blind und Taub!“ Es klingt gemein und ist sehr übertrieben – aber auch ein bisschen wahr. Sie sagt es mit liebevollem Spott in der Stimme und einer gewissen Arroganz. Ein ähnliches Schicksal wie das unsrige ist für sie ausgeschlossen – oder jedenfalls in sehr weiter Ferne. Und für das Selbstverständliche ist man normalerweise nicht besonders dankbar: Es scheint unendlich zur Verfügung zu stehen. Ich verurteile sie nicht; ich verstehe den Satz aus dem Prediger auch erst, seit mein eigener Zenit überschritten ist.
Glücklicherweise gefallen mir die Jahre noch. Mir geht es wunderbar, wenn auch ein wenig gebremster (und mit weniger Sehkraft) als früher. Spätestens heute fange ich damit an, Gott dankbar zu sein für meine guten Tage: Ich habe verstanden, dass sie vergänglich sind.