Besonders und umsonst

Wir gehen selten essen; es ist nicht normal, sondern etwas Besonderes für uns. Deshalb darf es dann auch etwas mehr kosten als zu Hause; schließlich bezahlt man den Service mit und dass man sich auch nicht ums Kochen kümmern muss. Kürzlich waren wir (aus besonderem Anlass) in einem mexikanischen Restaurant. Es schmeckte in Ordnung, aber eher normal als besonders. Entsprechend erstaunten mich die Preise – wie heutzutage überall: ganz schön teuer. Ab und zu ist das in Ordnung. Und doch denke ich wehmütig an unseren letzten Urlaub im Herbst. Wir waren in Süd-England in einem Airbnb; sehr gute Freunde von uns wohnen dort in der Nähe. Wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen, gingen viel spazieren und besuchten sie oft in ihrem kleinen Häuschen. Fast jeden Abend wurden wir bekocht. Meine Freundin ist eine sehr gute Köchin, ohne viele Worte davon zu machen. Sie benutzt kaum Rezepte und zaubert wie beiläufig sehr besondere und ausgesprochen leckere Gerichte –für uns: alle umsonst!

Ganz einfach besonders!

Ich bin zum Frühstück eingeladen und freue mich auf die Leute; kulinarisch erwarte ich nichts Besonderes. `Ein Frühstück halt´, denke ich, `Brötchen mit Käse und Marmelade, wahrscheinlich Obst, vielleicht Fisch, das wars.´

Der Tisch ist reich gedeckt – auch mit Käse, Marmelade und Obst. Aber daneben steht noch mehr: ein Brotaufstrich aus Bohnen, Walnüssen und Rosmarin zum Beispiel und ein Dip mit Datteln, Schmand und Harissa. Die Schneeballfrucht-Marmelade ist verfeinert mit Apfel, Kürbis und Johannisbeerlikör – und passt hervorragend zu den selbst gebackenen Brötchen. Vieles ist besonders und alles ausgesprochen lecker. Die Rezepte seien `ganz einfach´, meint die Gastgeberin und verspricht, sie mir zu schicken.

Ich nehme mir vor, meinen nächsten Gästen ebensolche Köstlichkeiten zu servieren, ahne aber, dass es bei dem Vorsatz bleiben wird: Meist stelle ich dann doch nur Käse, Marmelade und Obst auf den Tisch. Dabei ist es offenbar ganz einfach, ein Frühstück kulinarisch besonders zu machen – vielleicht auch für mich.

Besondere Typen

In unserer Tageszeitung ist ab und zu ein Porträt enthalten – unter dem Obertitel `Mittendrin: Typen´. Dort werden ganz normale Menschen vorgestellt, keine Honoratioren oder so. Ihre Lebenswege sind sehr verschieden und verlaufen oft ein wenig `um die Ecke´. Ich mag dieses Format: Es stellt das Besondere in den Mittelpunkt, das sich in JEDEM Leben finden lässt.

Kürzlich kannten wir denjenigen, um den es ging. Besonders interessiert lasen wir gerade dieses Porträt. Danach fragte ich meinen Mann, wann er denn `dran´ sei. Er sah mich gleichermaßen entsetzt und belustigt an: „Ich weiß nicht, wie man auf diese Seite kommt – zum Glück!“ Ich kann ihn verstehen: Er mag diese Art Aufmerksamkeit nicht. Und gerade deswegen würde ich das sehr, sehr lustig finden. 

Das erste Mal

Der erste Schluck Kaffee am morgen schmeckt am besten – genau wie der erste Spargel der Saison. Die erste Fahrt mit einem neuen Auto, der erste zwitschernde Vogel nach einem langen Winter, die erste Liebe – all das sind besondere Momente. Manche erlebt man nur einmal im Leben, manche einmal am Tag. Alle versprühen den Zauber der „ersten Erfahrung“; vielleicht ist dieser größer, wenn die Ereignisse weit auseinander liegen. Heute trinken wir den ersten Sundowner dieses Jahres – der vorherige liegt lange zurück. Wir werden Abstand halten und vorsichtig sein, aber dennoch: Das Wetter ist genau richtig; ich freue mich diebisch. Das erste Mal ist immer besonders; dieser erste Sundowner wird noch besser.

Nicht nur ein Kalb

Ich gehe über die Felder und sehe meine Freundin winken: „Komm her, ich muss dir etwas zeigen!“, ruft sie mir zu – und strahlt über das ganze Gesicht. Sie klingt, als wäre etwas Besonderes passiert. Dabei erlebt sie jedes Jahr mindestens 50 Geburten; aber auch über die von heute freut sie sich sehr. Im Stall darf ich es bewundern, das neugeborene Kalb. Da liegt es im Stroh, ganz frisch und feucht – und winzig im Vergleich mit seiner 600 Kilogramm schweren Mama. Alles ist super gelaufen bei dieser Geburt; das ist oft so, aber nicht immer. Dieses Mal werden sehr sicher beide überleben, Kuh und Kalb. Das ist natürlich eine schöne Bestätigung für die Bäuerin – die Umstände in diesem Stall sind lebensförderlich. Noch dazu ist ein gesundes Kuh-Kalb ein finanzieller Gewinn. Aber für meine Freundin ist es eben nicht nur das: Sie erlebt ein fröhliches Staunen, die beiden da so liegen zu sehen. Und es ist völlig egal, ob sie das schon hunderte Male miterlebt hat: Für sie bleibt es etwas Besonderes.

Zwei Stunden später bekomme ich eine Nachricht: „Übrigens, Dagmar, da kam noch ein zweites hinterher, noch ein Kuh-Kalb.“ Aber es ist nicht nur ein Kalb, denke ich. Es ist auch schwarz-weiß gefleckte Bestätigung ihrer Arbeit, finanzieller Gewinn – und Anlass zu großer Freude über das Leben.

Heute

Heute Morgen fand ich auf unserer Terrasse einen Blumenstrauß, ein Fläschchen Löwenzahn-Sirup und einen langen Brief an mich. Eine Freundin hatte sich offenbar schon sehr früh auf den Weg gemacht, mir einen Gruß vorbeizubringen. Wie schön!

Heute Nachmittag war ich bei einer anderen Freundin zum Reden und Beten. Zum Abschluss legte sie mir ein warmes Körnerkissen auf meine Schultern, stellte mir eine aufgeschnittene Mango vor die Nase und sagte: „Dagmar, die isst du hier! Wenn ich sie dir mitgebe…“, und ich ergänzte, „… darf ich sie teilen.“ Ich weiß nicht, ob ich in meinem Leben schon einmal eine Mango ganz allein gegessen habe, noch dazu so eine leckere.

Heute Abend sprang mir die Kette vom Rad. Während ich mich vornüber beugte und mit einem stillen Seufzer die (natürlich frisch geölte) Kette wieder aufzog, liefen zwei schwarzbeschuhte Füße in mein Blickfeld. Abstands-, anstandslos und im Grunde wortlos griff ein freundlicher Spaziergänger – Sorte: älterer Herr mit Hund – zu, hob das Hinterrad an und belastete im richtigen Moment langsam die Pedale: Kette wieder drauf.

Heute war ein Tag wie jeder andere: Ich machte Essen, ging ein Brot holen, kümmerte mich um die Wäsche, half bei den Schulaufgaben …
Dazwischen gab es drei Geschenke nur für mich.

Heute war ein besonderer Tag!

Normal? Besonders!

In einem Buch las ich einen kurzen Text über das normale Leben in einem armen Land: Ein Mädchen wird angefahren und bricht sich das Bein. Der Motorradfahrer flüchtet, eine Versicherung gibt es nicht. Schmerzmittel muss die Familie in der Apotheke selbst besorgen. Je schneller das Mädchen operiert wird, umso mehr kostet die Behandlung – also wartet die Familie ab, denn sie ist arm. Und das Mädchen leidet.

Ich dachte: Wir haben keine Ahnung, was in anderen Ländern dieser Welt normal ist und wie besonders das ist, was wir für normal halten.

Besonders (2)

Wollen wir nicht alle besonders sein? Besonders sind aber immer nur die anderen. Die scheinen das auch noch zu wissen und leben in einer tiefen Sicherheit, mit Selbstbewusstsein, das zum Himmel reicht. Nur ich nicht? „Wir sehen nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“, sagt der kleine Prinz in „Der kleine Prinz“; aber ich denke: Das stimmt eben gerade nicht – wir sehen eben nicht mit dem Herzen, wir sehen nur mit den Augen. Mit dem Herzen zu sehen ist nämlich ungleich schwieriger und uns nur vorbehalten in gewissen Sternstunden, wenn Gott selbst sie uns öffnet. Sonst sähen wir das Besondere im anderen – ohne Neid – und das Besondere in uns – ohne Stolz.

Besonders (1)

„Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin…“
Psalm 139, 14a

Wunderbar? Ich will besonders sein. Ich weiß, dass ich von Gott wunderbar gemacht und für Gott einzigartig bin – und das ist doch etwas Besonderes. Aber es reicht mir nicht immer. Ich möchte Dinge besser können als andere, eine Sprache, einen Sport, einen Job, möchte eine Gabe haben, die andere nicht haben. Besonders sein eben. Wahrscheinlich bin ich mit diesem Wunsch nicht allein, aber er fühlt sich nicht richtig an, nicht legitim.

Außerdem: Wieso möchte ich besonders sein? In Gottes Augen werde ich nicht liebenswürdiger, wenn ich anders bin. Er hätte mich ja anders machen können. Seine Liebe kann ich mir nicht verdienen. Menschen dagegen würden mich auch dann nicht mehr lieben, wenn ich die Tollste überhaupt wäre. Liebe funktioniert nicht so. Liebe funktioniert anders. Und auf die Liebe kommt es an.

Wieso dann also dieser Wunsch tief in mir? Wieso dieser Frust, wenn ich Dinge nur mittelmäßig kann oder zwar etwas mehr als durchschnittlich, aber eben nicht besonders gut? Weil ich mich so oft mit denjenigen vergleiche, die gut sind, begabt, liebenswert und überdurchschnittlich in irgendetwas. Ich blicke zu ihnen auf, bewundere interessante Leute – und bin mir oft vielleicht gar nicht bewusst, dass ich in den Augen anderer ähnlich interessant (eben anders) wirke.

Wir haben ja die unpraktische Gewohnheit, uns überhaupt zu vergleichen. Und dann eben auch noch mit Leuten, die – auf den ersten Blick zumindest – „mehr besonders“ scheinen als wir selbst. Dabei sagt Gott, dass ich genug bin. Wunderbar genug.