Begrenzte Freiheit

Im Restaurant bei uns im Ort redet eine meiner Nichten die Bedienung mit Du an: auftaktlos und ohne Vorwarnung. So kennt sie es wahrscheinlich aus der Großstadt oder aus den Studentenkreisen, in denen sie sich zu Hause fühlt. Auf den ersten Blick wirkt das Du vielleicht modern. Ich mag es trotzdem nicht; für mich klingt es respektlos. Dabei ist meine Wahrnehmung natürlich ebenso beeinflusst von der Prägung, in der ich mich zu Hause fühle.

Die Gedanken sind frei, heißt es in einem Lied. Ich würde sagen: Auch unser Denken ist begrenzt. Ohne einen unabhängigen Kompass richten wir uns alle nach unserem Umfeld. Und ganz selbstverständlich übernehmen wir die Werte, die dort gerade angesagt sind.

Es mag heutzutage üblich sein, jeden zu duzen, der mir über den Weg läuft – frei von Konventionen ist es nicht. Denn unsere persönliche Freiheit, meine `freie´ Entscheidung, hat einen klaren Rahmen. Und dieser orientiert sich an Standards und Maßstäben von außen und den Konsequenzen, die ein Ignorieren derselben nach sich zieht. Das ist eine Tatsache, egal ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht.

Bezogen auf Du oder Sie waren die mich prägenden Umgangsformen früher da als die meiner Nichte. Sie sind deswegen nicht automatisch veraltet oder falsch und erst recht nicht weniger frei: nur anders begrenzend. Das ist alles.

Vom Auftakeln, begrenzt

Ich sehe nicht mehr aus wie 25 oder 35, denn ich bin schon 54. Mit meinem Erscheinungsbild (draußen vor der Tür) gebe ich mir nicht wesentlich mehr Mühe als früher – aber ein bisschen doch: `Wer abtakelt, muss auftakeln´, denke ich jedes Mal, wenn ich:

Gelegenheiten nutze, mich schick zu machen,
auf ausreichend Schlaf achte,
aus der Form geratene Augenbrauen vorsichtig zupfend zurechtstutze,
meine Garderobe altersgerechter auswähle
usw. usf.

Meine Bemühungen sind offenbar nur teilweise erfolgreich: Im Gottesdienst setze ich mich neben eine Freundin. „Du siehst gut aus!“, sagt sie und ich freue mich. Mein Blick fällt auf V., eine Frau Anfang 70 zwei Reihen hinter uns. Man sieht ihr das Alter nicht an, denn sie ist immer dezent geschminkt und äußerst geschmackvoll gekleidet: jung und sportiv, ohne auf jung getrimmt zu wirken. „Ich würde V. gern Konkurrenz machen“, antworte ich – für mich ungewohnt schlagfertig. „Das schaffst du nicht“, kommt es ebenso spontan zurück. Nur einen Moment lang bin ich verwirrt und fühle mich wie ein Ballon, dem die Luft abgelassen wird. Dann ist es wieder gut; ich verspüre weder Enttäuschung noch Neid. Meine Freundin hat recht: V. wird diesbezüglich, ohne es darauf anzulegen, immer in einer anderen Liga spielen. Mein Wunsch und meine Fähigkeit, aufzutakeln, sind begrenzt …

Begrenzt

Je länger du dich mit etwas beschäftigst, desto besser wirst du – zumindest geht es meinem Sohn so in seinem Mathe-Kurs an der Uni. Ich bin dankbar, dass er diese Erfahrung macht: Es kostet Kraft, Überwindung und Ausdauer, sich immer wieder einem schwierigen Thema zu widmen. Leichter wäre es, sich von Misserfolgen aus der Bahn werfen zu lassen – und aufzugeben. Aber so läuft es eben nicht im Leben, so kommt man nicht weiter. Nur wenn du deine Komfortzone verlässt, entwickelst du dich weiter. Begrenzt du dich auf das, was du schon beherrschst, bleibst du – begrenzt.