Vielschichtig

Seit Januar gehe ich (un)regelmäßig zur Physiotherapie; ich habe immer dieselbe Therapeutin. Wir sind uns sympathisch und reden sehr ehrlich über alles Mögliche – während der halben Stunde der Behandlung. Mit jedem Gespräch verändert sich das Bild, das ich mir nach unserem ersten Treffen gemacht hatte. Ihre Persönlichkeit offenbart sich mir langsam: So wie bei den einzelnen Schichten einer Zwiebel erfahre ich immer mehr von ihr, was ich nicht wusste.

Bald werden unsere verordneten Treffen vorbei sein. Ich bin gespannt, ob die Beziehung dann privat weiterbestehen wird. Es wären noch viele Schichten zu entdecken.

Eine Begegnung

Ich bin mit dem Rad unterwegs. Der schmale Feldweg steht streckenweise unter Wasser. Von vorn kommt eine Fußgängerin. Es ist genug Platz für uns beide. Aber da, wo wir uns treffen würden, verengt eine Pfütze den Weg so, dass wir nicht beide trockenen Fußes/Rades aneinander vorbeikommen können. Sie bleibt kurz davor stehen und lächelt mich an. Ich fahre weiter, lächle zurück und bedanke mich.

Manchmal gibt es das: ein stilles Einverständnis, eine unverdiente Freundlichkeit, eine nur angenehme Begegnung – und all das mit einer Unbekannten. Sehr schön.

Nur eine Begegnung?

In Begegnungen mit Menschen verhalte ich mich nicht immer ganz genau gleich: Mein ICH hat Facetten. Welche besonders sichtbar wird, hängt auch von meinem Gegenüber ab: Ich offenbare immer nur einen Teil von mir – zum großen Teil unbewusst. Ich bin immer dieselbe – und doch irgendwie nicht. Dadurch schätzen Menschen sehr unterschiedlich ein, wie ich bin.

Außerdem lebt jede Begegnung zwischen zwei Menschen von einer Mischung aus Sendung und Reaktion – nur im Idealfall zu gleichen Teilen. Je nachdem, mit wem ich es zu tun habe, bringe ich viel von mir ein oder reagiere stark auf den anderen. Ich-Stärke wirkt inspirierend auf andere; Empathie macht mich zu einem nahbaren Menschen.

Durch die Begegnung mit Menschen werde ich verändert – positiv oder negativ, kurzfristig oder nachhaltig: Gute Laune kann ebenso ansteckend sein wie Traurigkeit; ein ernsthafter Gedankenimpuls mein ganzes Weltbild ins Wanken bringen. Die Summe aller Begegnungen prägt, schleift und verändert mich.

Der tut nichts

Am liebsten sind mir die Hundebesitzer, die mit MIR reden, während sie von ihrem Hund behaupten, er tue nichts. Sobald sie mich erklärend ansprechen und sich vielleicht für das laute Gekläffe oder wilde Herumgespringe entschuldigen, glaube ich ihnen. Hundebesitzer, die in der Begegnung mit mir nur auf ihren Hund einreden, sind mir suspekt – tut mir leid. Wer den Kontakt zu mir nicht sucht, obwohl sein Hund neugierig (bedrohlich?) auf mich zu rennt oder abwartend (lauernd?) stehenbleibt, versäumt in meinen Augen die Gelegenheit, das Verhältnis von Joggern zu Hunden zu verbessern.

Ich bin in diesen Momenten verunsichert: Soll ich um Wegerecht bitten? Soll ich fragen, ob ich weiterlaufen kann? Nutzt der Hundehalter den vorbeilaufenden Menschen (mich) als willkommenes Trainingsobjekt für den zu erziehenden Hund – mit ungewissem Ausgang? Keine Ahnung, ich weiß manchmal einfach nicht, wie ich mich verhalten sollte. Liebe Hundebesitzer: Redet mit mir! Ein einfaches „Der tut nichts!“ wäre ein guter Anfang. „Der will nur spielen“ geht auch, hat aber nicht ganz so eine beruhigende Wirkung.

Begegnung und Zeit

Meine Busreisen-Erfahrung ist limitiert. Während einer Flixbus-Fahrt nach Berlin bekam ich vor kurzem trotzdem einen interessanten Einblick in diese Form des Unterwegs-Seins. Man sitzt dicht zusammen in einem Bus und kann nicht – wie im Zug – in ein anderes Abteil wechseln oder allein im Gang stehen. Während der viereinhalb Stunden wechselten meine Mitreisenden: Da gab es einen, der an der Uni Zürich promoviert, aber gerade die alte Heimat besuchte. Weltoffen, alternativ und gesprächig – der Typ Mensch, mit dem ich in meinem Umfeld selten in Berührung komme. Außerdem mit uns im Bus reiste eine Oma (mit Handy) mit ihrem Enkel (eindeutig von ADHS betroffen). Ich fragte mich, welche Zuwendung für das Kind noch besser wäre und ob es für ihn jemals eine Ruhepause gibt. Eine etwas über 70-jährige Witwe fing jeden zweiten Satz mit „Ich bin der Meinung“ an – auch sehr gesprächig. Ein jüngerer Mann dagegen sprach kein Wort, sondern hatte mit seinen digitalen Medien zu tun. Alle Begegnungen ließen die Zeit schneller vergehen.

Wegen eines Staus auf der Autobahn fuhr unser Busfahrer von dieser ab sowie zielsicher und zügig durch das Hinterland von Sachsen-Anhalt und brachte uns mit nur wenig Verspätung nach Berlin. Als ich mein Gepäck auslud, bedankte und verabschiedete ich mich bei ihm. Vielleicht war ich die Einzige? Er lächelte erstaunt und sah mich an, wir wünschten uns einen guten Tag. Diese Begegnung ließ die Zeit für einen Moment stillstehen.