Ich glaub´, es geht los!

„Ja, das hast du mir heute Morgen schon erzählt“, unterbricht mich meine Tochter nach den ersten zwei Sätzen. Erst wundere ich mich ein bisschen, dann fällt es mir wieder ein – sie hat recht. Wenig später frage ich sie etwas anderes. Erstaunt schaut sie mich an und sagt, dass wir darüber doch gestern Abend schon gesprochen hätten. Dieses Mal fällt es mir in dem Moment selbst wieder ein – sie hat recht. Ich glaub´, es geht los, denke ich mir, ich werde älter.

Es soll normal sein, dass man Dinge vergisst, wenn man älter wird: Was man nochmal im Keller holen wollte zum Beispiel oder wie doch gleich die Bekannte hieß, die man so selten trifft (Kirsten und Kerstin werfe ich gern durcheinander, Anke und Antje oder Jeanette und Jaqueline sind auch geeignete Kandidaten). `Älter werden´ ist dabei ziemlich relativ – was heißt das schon? Wir werden alle jeden Tag älter; und manche Vergesslichkeit hat mit dem Alter nichts zu tun: Ich habe schon in der Grundschule wahnsinnig oft meine Hausaufgaben vergessen; und zu unseren Finanzen könnte mein Mann mir alle drei Monate dasselbe erzählen – und es wäre immer (fast ganz) neu für mich.

Die beiden aktuellen Situationen mit meiner Tochter fallen weder unter `lästig´ (Hausaufgaben), noch ist es `Desinteresse´ (Finanzen). Sie sind vielleicht dadurch erklärbar, dass ich in beiden Fällen keine Antwort auf meine Kommentare bekommen hatte. Ohne Klärung kann ich keinen mentalen Haken dranmachen und wiederhole mich. Das darf sein, würde ich sagen, das ist dann weniger vergesslich als vielmehr hartnäckig. Allerdings ist auch das eine Eigenschaft, die eher dem Alter zugeschrieben wird – Alterssturheit. Es hilft nichts; ich glaub´, es geht los: das Alter, in dem man alles Mögliche mit dem Alter erklären kann. 

Geschenkte Jahre 

Eine befreundete Nachbarin hat Geburtstag. Ich gehe vorbei, um ihr zu gratulieren und eine Karte für sie vorbei zu bringen. Ihr Kaffeebesuch ist gerade eingetroffen. Also nehme ich sie nur kurz in den Arm und sage ihr, wie sehr es mich freut, dass es ihr so sichtbar gut geht. „Ja, das ist wirklich ein Geschenk“, sagt sie beschwingt, „ich könnte auch schon längst im Rollstuhl sitzen oder gar unter der Erde liegen!“ Ihre 87 Jahre sieht man ihr nicht an – und spürt man ihr nicht ab. Ich wäre sehr dankbar, wenn ich in vierunddreißig (!!!) Jahren ebenso lässig am Türrahmen lehnen könnte wie sie!

Blind und taub

„Denk an deinen Schöpfer in deiner Jugend, ehe die bösen Tage kommen und die Jahre sich nahen, da du wirst sagen: `Sie gefallen mir nicht´; ehe die Sonne und das Licht, Mond und Sterne finster werden und Wolken wiederkommen nach dem Regen, … und wenn die Türen an der Gasse sich schließen, dass die Stimme der Mühle leiser wird …“
Prediger 12, 1-2+4

„Betrifft mich nicht“, dachte ich noch vor ein paar Jahren, denn: „Wer schlecht sieht und kaum etwas hört, muss sehr alt sein.“ Heute bin ich zwar noch nicht sehr alt, aber jung auch nicht mehr. Viele Jahre konnte ich alles tun, was ich wollte, ohne ein Nachlassen meiner Kräfte oder Fähigkeiten zu spüren. Einige weitere Jahre hat mein Körper mit Erfahrung und Ausdauer kompensiert, was schwieriger wurde. Die Zeiten sind vorbei. Von mir unbemerkt bin ich angekommen in einem Alter, in dem manches nicht mehr geht: Verspannungen halten sich hartnäckig; in der ersten halben Stunde des Tages begleitet mich eine gewisse Steifheit. Der größte Unterschied zu früher ist jedoch, dass ich ohne Brille nicht mehr lesen kann. Die Baustelle meines Mannes ist eine andere. Seine Sehkraft ist nach wie vor brillant, dafür hört er ein bisschen weniger als früher. 

Auf der Fahrt in den Urlaub platzt eine Tochter heraus mit: „Wen haben wir im Auto? – Blind und Taub!“ Es klingt gemein und ist sehr übertrieben – aber auch ein bisschen wahr. Sie sagt es mit liebevollem Spott in der Stimme und einer gewissen Arroganz. Ein ähnliches Schicksal wie das unsrige ist für sie ausgeschlossen – oder jedenfalls in sehr weiter Ferne. Und für das Selbstverständliche ist man normalerweise nicht besonders dankbar: Es scheint unendlich zur Verfügung zu stehen. Ich verurteile sie nicht; ich verstehe den Satz aus dem Prediger auch erst, seit mein eigener Zenit überschritten ist.

Glücklicherweise gefallen mir die Jahre noch. Mir geht es wunderbar, wenn auch ein wenig gebremster (und mit weniger Sehkraft) als früher. Spätestens heute fange ich damit an, Gott dankbar zu sein für meine guten Tage: Ich habe verstanden, dass sie vergänglich sind.

Überlebenstraining?

„Ein Überlebenstraining für alle ab 50“ lautet der Untertitel eines Buches, das ich gerade lese. Ich finde es amüsant – aber leider nicht mehr. Ein Teil der Ratschläge zielt darauf ab, sich mit dem eigenen Alter zu arrangieren; weiterhin wimmelt es von Hinweisen, wie sich die äußere Erscheinung „verjüngen“ lässt: Botox spritzen, Haare färben, permanentes Make-up auftragen, Beinenthaarung für 50-jährige ungelenke Frauen, Fingernägel-Styling …

All diese Maßnahmen sind nicht verwerflich; nur finde ich sie für mich absolut nicht hilfreich. „Wie überlebe ich die 50, ohne dass ich so aussehe?“, ist nicht die Frage, auf die ich eine Antwort suche. „Wie werde ich 50 und fühle mich auch so?“, steht viel drängender im Raum. Dass ich nicht mehr jung bin und mich optisch dementsprechend verändere, weiß ich und finde es nicht problematisch. Mein Lebensgefühl dagegen scheint nicht Schritt zu halten mit den verfliegenden Jahren: Als 50-Jährige sollte ich Anzeichen von Altersweisheit zeigen, denke ich. Stattdessen fühle ich mich in mancher Hinsicht unsicherer und weniger kompetent, als mein Alter vermuten lässt. Woran das liegt? Ich weiß mehr als früher; vor allem weiß ich mittlerweile, dass ich ganz viel nicht weiß.

Altersweise sind diejenigen, die viel wissen; als altersstarrsinnig gilt jemand, der meint, alles zu wissen. Die Grenze ist ein feiner Grat. Vom Wissensumfang her nähere ich mich weder dem einen noch dem anderen. Das ist vielleicht nicht das Schlechteste – und es bestätigt, dass man mit 50 zwar „nicht mehr jung“, aber noch lange nicht „alt“ ist. „Überlebenstraining“ kommt später, viel später!

Reingewachsen

„Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. Was hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde aber bleibt immer bestehen.
Prediger 1, 2-4

Mir haben bestimmte Verse aus dem Buch Prediger schon immer gefallen: Die „Alles hat seine Zeit“-Sätze aus dem dritten Kapitel zum Beispiel stimmen und passen zu Lebenssituationen im allgemeinen. Die vorab zitierten Verse über die Sinn- und Bedeutungslosigkeit des Einzelnen – sie sprechen mich erst seit einigen Jahren an: Ich bin angekommen in dem Alter, in dem die im Prediger formulierten Gedanken und Erfahrungen auch meine eigenen sind.

Es ist nicht so, dass ich mich selbst nicht mehr so wichtig nehme. Aber die Vergänglichkeit des Seins hier auf der Erde, die alles Streben nach Bedeutung zumindest ein wenig relativiert, die ist mir heute deutlich stärker bewusst als früher. Mit Todessehnsucht oder einer Resignation am Leben an sich hat das nichts zu tun. Die Grenzen meiner eigenen Bedeutsamkeit entlasten und befreien mich eher, als dass sie mich frustrieren.

Ich muss weniger und darf mehr: Ich muss es niemandem beweisen; ich muss nicht mehr so viel Rücksicht nehmen und bin weniger besorgt wegen der Konsequenzen; ich muss auch nicht mehr jugendlich ambitioniert sein. Ich darf schon aus einem Vorrat an Erfahrungen schöpfen und weiß mehr als früher, was ich kann und will. Ich erlaube mir leichter, Dinge zu tun oder zu lassen; ich darf ganz ich sein – auch mit meinen Schwächen und meiner Unfähigkeit, Großartiges zu vollbringen.

Vielleicht bin ich auch nur reingewachsen in die Perspektive der Lebensmitte …

Lass mir mein Gefühl!

Menschen mit 20 fühlen sich wie 20. 30 Jahre später ist das anders: Bei uns „Alten“ passt, wie alt wir sind, nicht dazu, wie alt wir uns fühlen. Wenn wir uns auch körperlich nicht mehr taufrisch wähnen, im Geist sind wir es noch. Gegenüber einer (gleichaltrigen) Freundin sinniere ich: „Ich fühle mich nicht mehr wie 20; aber ich fühle mich auch noch überhaupt nicht wie fast 50.“ Sie nickt und ergänzt: „Dagmar, wir können uns schon seit 30 Jahren nicht mehr wie 20 fühlen.“ Ich sehe sie ungläubig an und stöhne: „So genau wollte ich es gar nicht wissen.“ Wir müssen beide lachen.

Ich hatte was mit Soße

Familienfeier mit lauter älteren Herrschaften, 75 plus. Wir bestellen – das dauert seine Zeit. Bis das Essen kommt, dauert es auch. Dann kommen ungefähr 25 Gerichte nahezu gleichzeitig. Wer bekommt was? „Ich hatte was mit Soße“, bringt mich schon zum Schmunzeln; der eigentliche Knaller jedoch ist die Antwort eines Gastes auf die Frage, wer denn das Rinderfilet bestellt hat: „Das könnte ich gewesen sein.“ Ich muss mich sehr beherrschen, nicht laut loszuprusten.

Am nächsten Tag schäme ich mich. Vergesslichkeit ist keine Schande. Ich muss nicht 80 werden, um regelmäßig die Namen meiner Kinder durcheinander zu bringen, bisweilen Wortfindungsstörungen zu haben oder bekannte Gesichter auf der Straße nicht dem entsprechenden Zusammenhang zuordnen zu können, aus dem ich sie kenne. Wichtiger ist doch wohl, wie wir mit diesen Alterserscheinungen umgehen: Und da sind mir alte und auch junge Leute lieber, die weniger meckern als zufrieden und dankbar sind – und vielleicht sogar fröhlich etwas essen, was nicht so ganz ihrer Bestellung entspricht …

Altersmilde

Fahrradfahren ist toll. Seit ungefähr 30 Jahren – seit ich auch ein Auto nehmen könnte… „Nur Genießer fahren Fahrrad und sind immer schneller da“, das war lange mehr als mein Motto: Früher war ich nicht nur begeistert, sondern fast schon militant überzeugt, dass das Rad immer die bessere, umweltschonendere und glücklich-machendere Alternative zum Auto ist. Diese Phase meines Lebens scheint unwiederbringlich vorbei. Warum?

Zum einen: Autofahren ist echt praktisch – wenn ich es eilig habe, eine Menge transportieren muss, viele Menschen mitgenommen werden wollen und die Entfernung es gebietet. Das ist nicht gleich unökologisch, schlecht oder falsch. Kein Dogma. Was ich mir erlaube, kann ich anderen auch erlauben und in großer Gelassenheit trotzdem verantwortlich handeln.

Zum anderen: Die große Inspektion unseres Familienautos ist so teuer, da muss ich es doch auch bewegen! Soviel kann ich an Sprit gar nicht einsparen – auch wenn ich es bisher immer dachte.

Zum dritten: Es kommt nicht auf eine Autofahrt an, sondern auf mein ganzes Leben. Und normalerweise ziehe ich das Fahrrad dem Wagen noch immer vor. Bin ich aber gestresst oder nur aus Prinzip motiviert, ist motorisiert wohl besser – sonst werde ich unbarmherzig mit denjenigen, für die das Zweirad nicht die erste Wahl ist.

Sind das Ausreden, weil ich älter und bequemer werde, oder abgeklärte Erkenntnisse, weil ich älter und schlauer werde?

Arthrose

Vor einiger Zeit sagte eine Freundin zu mir, ich sei eine weise alte Eule. Es war als Kompliment gemeint. Davon merke ich wenig: Je länger ich lebe, umso weniger habe ich klare Antworten, sondern weiß, dass es immer mehrere Perspektiven gibt. Insofern hielt ich mich mit Mitte 20 schon für deutlich weiser als jetzt mit Ende 40. Natürlich werde ich älter, aber bislang spürte ich das nicht – weder im Geist noch am Leib.

Das hat sich zunächst schleichend, dann schlagartig geändert: Worte wie Alterswarze, Verschleiß und – neuerdings – Arthrose (!!!) sind nicht mehr nur abstrakte Begriffe, sondern reale Gegebenheiten meines Körpers. Darüber kann ich mich ärgern und tue es auch. Aber nicht nur das – ich bin wie in Schockstarre. War mein dreimal wöchentliches Laufen vor ein paar Tagen noch Genuss und Selbstverständlichkeit, bin ich nach dieser Diagnose wie gelähmt: Mache ich mit Laufen alles nur schlimmer? Was kann ich verhindern, wenn ich auf Schonung umschalte? Sofort und total? Was geht noch, was nicht mehr?

Dieser Zustand hält nicht an – glücklicherweise. Dazu ist mein Laufen viel zu sehr Ausgleich, Psychohygiene und nicht nur für mich, sondern auch für den Rest der Familie wichtig. Stimmungsentscheidend sogar. Was tun? Verdrängen geht nicht (mehr). Auch Vergleichen hilft nicht – obwohl es aufmuntern kann: Ich stelle immer wieder fest, dass andere in meinem Alter deutlich älter aussehen. (Ich vermute allerdings, dass es jenen ebenso geht.) Nein, die einzige Lösung ist, im Jetzt zu leben und die Perspektive zu ändern: „Für mein Alter… – bin ich noch ziemlich fit, kann ich noch gut laufen (sehen, hören …), bin ich noch sehr belastbar, habe ich wenige altersgemäße Einschränkungen.“ Ich kann dankbar sein für meinen Zustand, Frust wäre Jammern auf hohem Niveau.

Dem Alter (des Leibes) ins Auge blicken. Die Jugendlichkeit (des Geistes) genießen, solange es geht.