Vorher oder nachher?

Manchmal fällt mir erst nachher ein, dass ich vorher ein Foto hätte machen können, um den Vorher-Nachher-Effekt festzuhalten. Nachher ist es dann zu spät; nachher ist vom `Vorher´ nicht mehr viel zu sehen. Dadurch lässt sich das `Nachher´ nur noch ansatzweise würdigen – es fehlt der Vergleich. Andererseits: Was nutzen einem nachher die Fotos von vorher? Wen interessiert es, was mal war? Ist das `Nachher´ gelungen, sollte man sich daran erfreuen. Ist es dagegen missraten, hilft einem die Erinnerung an das wunderbare `Vorher´ jedenfalls nicht, sich mit dem neuen Ist-Zustand gut zu arrangieren.

Das Beschneiden unseres Pflaumenbaums hat nicht viel vom `Vorher´ übrig gelassen – dennoch ist dieses `Nachher´ ein Erfolg: Die bisherige Fülle bestand aus kranken, krüppeligen Trieben, nie ordentlich in Form geschnitten. Jetzt darf der Baum noch einmal versuchen, eine schöne Krone auszubilden. Dieser Ist-Zustand ist das neue `Vorher´: Mal schauen, was nachher daraus wird.

Emanzipiert?

Die Tochter eines Freundes möchte gern etwas studieren, was man getrost als nicht systemrelevant oder sogar brotlos bezeichnen kann. Mein Freund findet das nicht nur super; er denkt fünf Jahre weiter: „Weißt du, Dagmar, mein Herz schlägt für Emanzipation. Und daher wünsche ich meiner Tochter, dass sie auf eigenen Füßen stehen kann.“

Ich kann ihn verstehen – und doch geht mir zweierlei durch den Kopf: Zum einen sind doch Leidenschaft und Begabung mit das Wichtigste bei der Berufswahl. Zum anderen störe ich mich daran, dass mit den eigenen Füßen vor allem (oder ausschließlich) die Finanzen gemeint sind. Dabei lebt man erst dann wahrhaft `selbst-ständig´, wenn man sich auch geistig und emotional emanzipiert, also von anderen löst. Diese Unabhängigkeit ist vielleicht schwerer zu erreichen als ein eigener Job und lässt sich von außen schlechter erkennen. Für die persönliche Zufriedenheit ist sie aber sicher entscheidender.

Nicht irgendein Baum

Bei uns um die Ecke, eingequetscht zwischen einem Garagenhof und einer engen Kurve steht ein Baum – es könnte eine Blasenesche sein. Er ist wunderschön gleichmäßig gewachsen mit einer üppigen und ausladenden Krone. „Der wäre einer für die große Bühne, äh Wiese“, sagt meine Tochter, „der kommt hier gar nicht richtig zur Geltung.“ Recht hat sie. Einerseits.

Andererseits macht dieser Baum den Unterschied in dieser Kurve – ohne ihn wirkte sie steril und langweilig. Zwar nimmt man diesen Baum im Vorbeifahren kaum richtig wahr: Eindrucksvoll erscheint er erst, wenn man ein paar Schritte zurückgeht und ihn wirklich ANSCHAUT. Dennoch verschönert seine meist nur unbewusst wahrgenommene Präsenz diesen Ort.

Ich denke, manche Menschen sind ebenso. Die wahren menschlichen Helden unseres Lebens sind nicht unbedingt diejenigen, die unübersehbar und für jedermann zu hören auf der Bühne stehen. Mich beeindrucken die am meisten, die ihren Platz wunderschön ausfüllen – wie unscheinbar dieser auch sein mag. Sie kommen oft gar nicht richtig zur Geltung, aber ihre Präsenz verschönert doch jedes Miteinander.

Des einen Freud, des anderen Leid … 

Es soll mehr Verkehr von der Straße auf die Schiene umgeschichtet werden – dafür muss es bessere (und mehr) Zugverbindungen geben. Auf dem Weg durch die Lüneburger Heide sehen wir Kreuze aus roten und weißen Latten: Mit ihnen protestieren Anwohner gegen eine geplante Bahntrasse.

Windräder produzieren Strom aus der erneuerbaren Energie Wind – Klimaschützer freuen sich. Menschen in Gegenden mit viel Wind erleben die schon vorhandenen Windparks als landschaftszerstörend und wehren sich engagiert gegen weitere Windkraftanlagen.

Bei uns im Stadtteil quält sich der Fernverkehr mitten durch die Siedlung; Anlieger nervt das schon seit mehreren Jahrzehnten. Eine Umgehungsstraße wird immer nur teilweise genehmigt. Gegen den letzten Abschnitt, der meinen Stadtteil entlasten würde, kämpfen sowohl Naturschützern als auch andere Anwohnern seit ebenso vielen Jahrzehnten – entschlossen und bisher erfolgreich.

Mein Sohn geht in drei Wochen für elf Monate ins Ausland. Er freut sich auf diese Erfahrung und das, was fernab der Heimat (und der Familie) möglich sein wird. Während wir uns mit ihm freuen, sind wir gleichzeitig wehmütig: Wir werden ihn vermissen.

Des einen Freud und des anderen Leid liegen manchmal nah bei einander – und entziehen sich dennoch einem zufrieden stellenden Kompromiss.

Mehr Abschied

Die Pubertät des jüngsten Sohnes fühlt sich anders an als die des ältesten; sieben Jahre liegen dazwischen. Aber vor allem haben die Umstände sich verändert: Es ist kein Kleiner mehr da, der rückhaltlos bewundert, bedingungslos vertraut und generell Nähe zulässt – all das, zu dem der `Große´ nur noch hin und wieder bereit ist. Diesmal schmeckt alles mehr nach Abschied.

Anders als erwartet: besser

Beim Spazierengehen gelingt es mir leichter, in Ruhe zu beten. Draußen klingelt kein Telefon, ist kein Einkaufszettel zu schreiben, streift mein Blick nicht über den verstaubten Fußboden. Aber auch im Wald `stören´ Dinge meinen Fokus: andere Spaziergänger, der Klang des Kuckucks, ein Reiher am Teich oder ein Reh … Manchmal läuft es anders:

Ich gehe spazieren und laufe direkt hinein in einen ausgiebigen Regenschauer. Zwar habe ich eine Regenjacke an, merke aber, dass diese der niederprasselnden Wassersäule nicht standhalten wird. Umkehren mag ich dennoch nicht – und innerhalb der nächsten 45 Minuten arbeitet sich die Nässe durch alles hindurch, was ich auf dem Leibe trage. Ich könnte so schnell wie möglich wieder nach Hause gehen – und habe das sicherlich auch schon getan. Nicht so diesmal; ich arrangiere mich mit dem Regen und erwarte, dass Gott mit mir unterwegs ist. Es ist keine bewusste Entscheidung, eher ein trotziges: Jetzt erst recht!

Ohne Regen wäre es gemütlicher, klar. Aber nicht immer ist es das Beste, wenn eintritt, was wir uns erhoffen: Wenn es `junge Hunde´ regnet, ist sonst kaum jemand unterwegs, kein Tier zu hören oder zu sehen. Und Gott überrascht mich – ich bete gänzlich un-abgelenkt und spüre große Freude und tiefen Frieden. Als ich wieder zu Hause ankomme, sind nur meine Haare noch trocken und mein Gesicht; ich habe mich lange nicht so lebendig und zufrieden gefühlt.

Manches, was Gott uns gibt, ist nicht in unserem Sinne; wir wünschen es uns anders – und haben eine konkrete Vorstellung davon, wie. Vielleicht wäre es klug, uns stattdessen mit Gegebenheiten zu arrangieren. Denn nur, wenn wir loslassen, was wir haben wollen, bekommen wir den Blick frei für das, was Gott uns geben möchte. Oft ist das anders als erwartet: besser.

Wohlstand

Wir werden unseren Wohlstand einbüßen, warnen uns Politiker und andere Experten – und beziehen das hauptsächlich auf materielle Dinge. Aber Wohlstand ist laut Wikipedia ein `positiver Zustand, der individuell unterschiedlich wahrgenommen wird´. Dieser setzt sich zusammen aus materiellem, geistigem und emotionalem Wohlergehen.

Es klingt nach einem schweren Verlust, wenn wir etwas einbüßen – als wären wir danach automatisch arm. Dabei bleibt unserer Wohlstand erhalten, wenn wir `positiver Zustand´ anders definieren als bisher. Denn zumindest in Deutschland existiert etwas zwischen Wohlstand und Armut: ein breites Feld von `genug´, das (zugegeben) jeder anders wahrnimmt. Ich darf für mich selbst überlegen, in welchem Spielraum ich mir genügen lassen möchte – materiell, geistig und emotional. Viele von uns wären wahrscheinlich nicht automatisch arm, selbst wenn sie mit weniger Besitz auskommen müssten als bisher.

Seltsam

In der Mittagshitze wässert jemand den Rasen und reinigt seine schmutzigen Garagenwände mit dem Hochdruckreiniger. Ich wundere mich: Ob er von der Trockenheit und den Folgen für die Bauern – und UNS ALLE – nichts mitbekommt? Oder finde nur ich ein derartiges Verhalten seltsam beziehungsweise ziemlich ignorant? 

Teuer?

Ich kaufe ein Glas Honig und ein paar Haribo-Tüten, um beides ins Vereinte Königreich zu schicken. Als ich bei der Post den Preis für den Versand höre, stockt mir fast der Atem – und ich versende das Paket trotzdem. Auf dem Weg nach Hause beruhige ich mich mit dem Gedanken, wofür ich alles kein Geld ausgebe: teures Make Up, Schmuck, häufiges Essengehen, Flugreisen, ein zweites Auto, neueste Technik … Ich hatte das Geld übrig, dieses Päckchen zu verschicken, der Adressat ist es mir wert. Dennoch: In mir drin meldet sich ein unüberhörbares Stimmchen, das `zu teuer´ flüstert.

Dabei sind Dinge nicht nur objektiv teuer, sondern auch relativ. Verglichen damit, dass eine Schachtel Zigaretten mittlerweile 7€ kostet, ist ein Brot vom Bäcker seine vier, fünf Euro wert: Zigaretten kann ich rauchen, Brot muss ich essen. Wenn ich ein schickes Auto der neuesten Generation lease, nur um `mithalten zu können´, wäre der Griff zu einem gebrauchten Wagen deutlich günstiger – und außerdem noch gut fürs Selbstbewusstsein.

Und: In Relation zu den 50€, die meine Nachbarin kürzlich für überhöhte Geschwindigkeit zahlen musste, war mein Paket nicht teuer – und macht niemanden ärgerlich, aber jemanden glücklich.

Unsportlich

Englands Fußballerinnen sind Europameister. Sie haben sicherlich gut gespielt, vielleicht sogar besser als die Deutschen – sonst hätten sie nicht gewonnen. Aber in den letzten Minuten der Verlängerung, beim Stand von 2:1, spielten sie derart auf Zeit, dass es mir beim Zuschauen peinlich war. Die letzten Aktionen nach dem 2:1 schmälern meiner Meinung nach den sicherlich verdienten Sieg. Ein derartiges Verhalten in einer solchen Situation mag Usus sein – das macht es allerdings überhaupt nicht besser. Zeitspiel ist meines Erachtens unsportlich, einfach unsportlich. Den Pokal für den Sieg können sich die Spielerinnen ins Regal stellen; einen für Fairness bis zum Schluss bekämen sie von mir nicht.