Wurzeln

Vor Ostern kaufte ich Tulpen, sehr viele Tulpen: meine ganz persönliche, schokoladenfreie Oster-Deko. Mittlerweile sind die gelben, roten und pinken Exemplare aus den Vasen längst verwelkt und auf dem Kompost. Nur die lilafarbene Tulpen-Pflanze im Topf blieb deutlich länger frisch – und ich konnte sie danach im Garten eingraben. Nächstes Jahr wird sie sicher wieder lilafarbene Blüten tragen.

Ohne Wurzeln landet man irgendwo, mit Wurzeln findet man ein Zuhause.

Bequem

Um der Kinder willen, damit sie nicht unkontrolliert viel Zucker essen, habe ich die Schokolade weggeräumt, die von Ostern noch übrig ist. Sie ist noch immer leicht zu finden, lagert nur nicht mehr bequem zugänglich im Küchen- beziehungsweise Kühlschrank. Es funktioniert; keiner hat Lust, die Schokolade erst suchen zu müssen: Die Kinder (und wir mit ihnen) essen deutlich weniger Süßes – und vermissen nicht viel. Mal sehen, wie lange diese unbequeme Phase anhält, die uns allen so gut tut.

Vorübergehend nicht erreichbar

Eine Freundin meiner Tochter hat ihr Handy in unserem Auto liegen lassen – wir müssen es ihr zurückgeben. Allerdings können wir ihr nicht sagen, dass wir es gefunden haben: Denn ihr Mobiltelefon ist ja bei uns; einen Festnetz-Anschluss besitzt sie nicht. Wir überlegen kurz, wo die Freundin genau wohnt: Selbstredend steht sie nicht im Telefonbuch.

Viele, vor allem junge Menschen sind übers Handy immerzu und ohne Handy fast gar nicht zu erreichen. Vielleicht ist es manchmal eine Segen, das Gerät irgendwo zu vergessen – und vorübergehend nicht erreichbar zu sein.

Ironisch unbegabt

Es ist schwer für mich, die Worte zynisch, ironisch und sarkastisch genau zu definieren. Natürlich kann ich nachlesen – und kenne den groben Unterschied: Ironie ist ein eher freundliches Stilmittel; Sarkasmus und Zynismus dagegen sind eher unfreundlich motiviert. Im Gespräch kann ich unterscheiden zwischen ironischen und sarkastischen Bemerkungen: Über die einen kann ich meistens lachen und erkenne sie doch nicht immer auf Anhieb. Die anderen sind eindeutig, aber selten – zum Glück: Sie erschrecken und verletzen mich gleichermaßen.

Ich beobachte immer wieder Menschen, die Ironie `können´, ohne sich anzustrengen – mein Mann zum Beispiel und (wahrscheinlich genetisch bedingt) auch einer meiner Söhne. Letzter war schon als kleiner Junge unbewusst ironisch und setzt diese Gabe auch als Teenager gezielt und gern ein. Ich selbst bin dagegen zu wenig schlagfertig und im Formulieren zu vorsichtig; ich muss mich um Ironie bemühen – vergeblich: Sie funktioniert am besten spontan und ungeplant. 

Einflussreich?

In der Zeitung steht, dass unter anderem Lionel Messi (und einige andere Fußballer ebenfalls) im Jahr 2022 zu den 100 einflussreichsten Menschen gehörte. Das hört sich beeindruckend an, aber ich frage mich: Wie lässt sich Einfluss wohl quantifizieren – und was genau hat sich verändert?

Geschmack

Ein Lied der Wise Guys verdeutlicht mir, wie verschieden begabt Menschen sind – und wie sehr wir einander brauchen: Nur der Bass, nur der Tenor, nur die erste Stimme, nur die zweite Stimme … jeder für sich klingt gut, aber ein bisschen blass. Alle zusammen sind ein Genuss!

Andersherum betrachtet: Eine Referentin auf einer Konferenz spricht mich überhaupt nicht an – im Gegenteil: Sowohl, was, aber besonders, wie sie es sagt, lassen mich unruhig auf meinem Stuhl hin und her rutschen. Am liebsten würde ich rausgehen, ich empfinde Fremdscham. Im Anschluss spreche ich mit Leuten, denen es komplett anders erging. Gerade die Art und Weise der Präsentation beeindruckte sie sehr.

Ich habe so etwas schon öfter erlebt – und doch erstaunt es mich immer wieder: Geschmäcker gehen weit auseinander. Was ich mag, stößt meinen Nachbarn ab; bin ich berührt, bleibt ein anderer emotionslos; wenn ich jedem Wort zustimmen könnte, widerspricht ein anderer vehement – oder auch umgekehrt. 

Rückzug auf das Wesentliche

Eine Freundin meiner Tochter ist aus fast allen social media ausgestiegen. Unter anderem hat sie Instagram deinstalliert. „Ich will bei diesen Selbst-Darstellungen nicht mehr mitmachen“, sagt sie, „und außerdem lebe ich lieber mein eigenes Leben als dem anderer Menschen zuzuschauen, die ich persönlich gar nicht kenne.“

Das Mädchen ist 16 Jahre alt – und konsequenter als mancher Erwachsene.

Unmittelbar oder aus sicherer Entfernung

Für den stehenden Fußgänger an der Ampel sind vorbeifahrende Autos blitzschnell – bei Tempo 70 sowieso, aber auch in 50er Zonen.
In wenigen hundert Metern Höhe fliegt ein Sport-Flugzeug; es ist flott unterwegs (200 bis 300 Stundenkilometer).
Jumbojets, zehn Kilometer über uns, sehen aus, als zögen sie gemächlich ihre Bahn. Von wegen: Mit fast 1.000 km/h sind sie schneller als alles, was wir im Straßenverkehr beobachten könnten.

Je weiter etwas entfernt ist, desto langsamer scheint es sich zu bewegen. Allein der räumliche Abstand sorgt dafür, dass wir die Realität verändert wahrnehmen.

Ich glaube, das gilt ebenso für Situationen, die wir zeitlich oder emotional distanziert betrachten: Sie selbst ändern sich nicht; aber nach einiger Zeit und rational betrachtet wirken sie manchmal vielleicht weniger eindrücklich. Nicht zu vermitteln (und schwer noch einmal oder nachzuempfinden) ist zum Beispiel das Gefühl, wenn ein Kind geboren wird oder ein lieber Mensch stirbt. Freude und Leid spüren wir unmittelbar am intensivsten, aus sicherer Entfernung nur noch abgeschwächt.

Vertrauen

Meine Tochter war in der Nacht spontan bei der Geburt eines Fohlens dabei. Am nächsten Morgen muss sie wegen ihrer zweiten Fahrstunde früh raus. Sie ist verständlicherweise unausgeschlafen, aber noch begeistert und erfüllt von dem nächtlichen Erlebnis. „Bist du sehr müde oder kannst du dich jetzt konzentrieren?“, frage ich sie. „Alles gut, es geht mir super“, sagt sie und winkt beruhigend ab: „Außerdem sitzt Chris (der Fahrlehrer) ja neben mir.“ Das klingt sowohl selbstbewusst als auch vertrauensvoll – eine tolle Kombination.

Der Herr der Zufälle

Da wird es zu kalt sein, um bei unserem Grillfest draußen zu sitzen – und wir müssen 22 Personen drinnen zu Tisch bitten. Gartenmöbel sind keine gute Idee: Die möchte ich nicht auf das schöne Parkett im Wohnzimmer stellen. Aber dann sind da doch im Keller noch einige alte Stühle und solche, die ich vor Jahren vorm Sperrmüll gerettet hatte; ein Tisch findet sich auch.

Da bricht mir eine Öse an meinen Wanderschuhen; der Hersteller lehnt den Auftrag ab. Die Schuhe seien zu alt, da lohne sich keine neue Öse (für 13 Euro). Ich sehe das anders, kann aber nichts erzwingen. Aber dann denke ich an den Schuster, der noch in Kasachstan gelernt hat, sein Handwerk versteht – und Bewährtes genauso gern erhält wie ich. Ihm sind meine Schuhe nicht zu alt; er nimmt sich ihrer an. Seine Öse werde wohl ein bisschen anders aussehen als die originale, meint er, aber das macht mir nichts aus. Eine Woche später sind die Schuhe fertig: Die neue Öse sitzt fest und genau an der richtigen Stelle – für fünf Euro.

Da haben wir vor einiger Zeit ein Buch verkauft, das mein Mann jetzt doch gut gebrauchen könnte. Neu wollen wir es nicht kaufen, die Bücherei hat es nicht; wir suchen es gebraucht im Internet. Aber dann fällt uns jemand ein, der es haben – und uns leihen – könnte. Bingo! Diejenige wohnt zwar 150 Kilometer weg, kommt uns aber in ein paar Tagen besuchen.

In solchen Momenten sind wir dankbar für diese Zufälle, die keine sind. Wir glauben, dass der Eine, der es immer gut mit uns meint, seine freundliche Hand in unserem Lebensspiel hat – und uns auch in Kleinigkeiten versorgt.