Allein

Auf meinem Spaziergang komme ich am Haus einer Bekannten vorbei; wir kennen uns vom Sehen. Heute wischt sie sich ein paar Tränen ab. Was los sei, frage ich. „Ach, nur Freudentränen, alles gut“, sagt sie, „meine Tochter hat mir gerade geschrieben: Sie hat für ihre Masterarbeit eine 1,0 bekommen!“ Ich gratuliere und bleibe kurz stehen. Im weiteren Gespräch erfahre ich, dass sie mittlerweile allein wohnt. Ihr Sohn ist ebenso erwachsen wie die Tochter; der Mann hat sich vor einigen Jahren von ihr getrennt. Das tut mir leid, aber sie winkt ab: „Es geht mir gut; ich habe meine Ruhe. Nur in solchen Momenten, da fehlt einem doch etwas.“ Ich nehme sie spontan in den Arm; sie bedankt sich.

`Geteiltes Leid ist halbes Leid´, heißt es. Für die schönen Momente unseres Lebens gilt dasselbe: Allein weiß man manchmal nicht, wohin mit seiner Freude. Besser ist es, wenn jemand da ist, der sich mit-freut.

Als ich weitergehe, denke ich an die Tochter. Heute will sie mit ihren Freunden feiern und morgen die Mutter besuchen. Kinder allein lebender Eltern fühlen sich unweigerlich verantwortlich, den fehlenden Partner zu ersetzen. Es ist toll, wenn sie das gern tun; aber es kann auch eine Bürde sein.

Nicht mehr peinlich

Meine erste Begegnung mit zu viel Alkohol ist lange her: Damals schlief ich inmitten einer laufenden Haus-Party einfach ein und wurde von anderen Gästen liebevoll (und über zwei Treppen) ins Bett geschleppt. Am nächsten Morgen konnte ich mich an nichts erinnern; vor allem gegenüber den Gastgeber-Eltern war mir die ganze Aktion ziemlich peinlich. Seit diesem Kontrollverlust habe ich nie wieder so viel und so durcheinander getrunken wie damals. Dadurch vertrage ich nicht viel; ich merke den Alkohol schon nach einem Glas Wein – und höre dann meist auf.

Auf dem Sommer-Geburtstagsfest einer Freundin dieses Jahr im Mai wurden es dann doch zwei (oder drei) Gläser: ein bisschen zu viel für die von mir so geschätzte `absolute´ Kontrolle. Ich war eindeutig beschwipst und das war sehr lustig – für mich und auch für einige andere, wie ich kürzlich feststellen musste: Eine Bekannte erinnerte mich schmunzelnd an meinen `Kontrollverlust´: Ich hatte zu viel getrunken; wahrscheinlich war meine Zunge gelöster und ich selbst fröhlicher drauf als sonst. Aber peinlich war und ist mir die ganze Aktion nicht.

Tote Winkel und blinde Flecken

Viele Laster sind (neuerdings) mit Aufklebern versehen, auf denen man den beziehungsweise die Toten Winkel erkennen kann: Erschreckend viel Fläche direkt um den Laster herum kann dessen Fahrer über seine Spiegel überhaupt nicht sehen. Er ist sich dessen (zumindest theoretisch) bewusst – schätze ich – und kann aber trotzdem nur schwer etwas daran ändern. Es wirkt so, als wäre es mindestens Glückssache, wenn beim Rückwärtsfahren oder Abbiegen niemand zu Schaden kommt.

Ähnlich geht es uns mit unseren Blinden Flecken; von außen betrachtet sind sie umfassender und klarer sichtbar, als uns selbst bewusst ist. Wir kennen sie (theoretisch) – und können doch praktisch nur schwer etwas an ihnen ändern. Es ist mindestens Glückssache, wenn es im Zusammentreffen mit anderen nicht zu mehr sozialem Kollateralschaden kommt.

Fokus geradeaus!

Ich versuche, auf einer Fuge zwischen den Gehwegplatten möglichst geradeaus zu laufen. Zunächst konzentriere ich mich auf die Fuge direkt vor meinen Füßen – und ende leicht verkrampft im Zickzack-Gang. Fokussiere ich mich dagegen auf einen Punkt weiter weg von mir, umso gerader komme ich voran. Ich muss ans Leistungspflügen denken, bei dem ich vor Jahrzehnten zugeschaut habe: Auf die erste Furche kommt es an; dafür wählt sich der Pflügende einen Zielpunkt am Ende des Feldes und fährt darauf zu. Die dadurch entstehende Spaltfurche wird umso gerader, je unbeirrter der Mann auf dem Trecker auf sein Ziel hinzu fährt. Der darauf folgende Rest der Pflügerei ist – sicherlich kein Kinderspiel, aber doch leichter. Ebenso geht es demjenigen, der eine volle Tasse irgendwohin trägt: lieber auf das Irgendwohin schauen als auf die Tasse selbst. Die fast überschwappende Flüssigkeit bringt einen sonst ganz schön aus dem Tritt! Selbst Eierlauf funktioniert besser, wenn man das Ei, um das es geht, gar nicht be(tr)achtet. Man braucht einfach einen anderen Fokus!

Apfelmus

In unserer Tageszeitung stehen regelmäßig Tipps für Gartenfreunde. Heute ging es um Fallobst: „Hat der heruntergefallene Apfel nur eine Schramme oder eine Druckstelle, ist er noch essbar. Bei faulen Stellen muss er entsorgt werden.“ Meine Oma wusste das offenbar nicht. Sie besaß keinen eigenen Apfelbaum, durfte aber bei Bekannten Fallobst sammeln und einkochen – all das, was sich nicht eignete zum Direkt-Verzehr. Falläpfel mit nur einer Schramme oder einer Druckstelle waren (und sind) die Ausnahme. Daher schnitt meine Oma faule Stellen großzügig raus und verarbeitete (höchst zufrieden und dankbar) den Rest zu wohlschmeckendem Apfelmus.

Exakt gleich große Äpfel (ohne Makel) im Supermarkt verschleiern unseren Blick für das, was sonst noch so vom Baum kommt: kleinere Äpfel und angedetschte, die sich nicht eignen zum Direkt-Verzehr. Diese werden kommerziell und in großen Mengen zu Apfelmus verarbeitet – mit Sicherheit ohne Rücksicht auf faule Stellen.

Mir ist selbst gemachtes Apfelmus lieber.

PS: Ich schätze, wann man etwas noch verwenden kann oder schon entsorgen muss, hängt davon ab, welche Alternativen man hat: Ein nicht fauler Apfel ist besser als ein fauler, das ist klar. Aber ein fauler Apfel ist besser als gar kein Apfelmus – das ist auch klar.

Gute Lehrer

Gute Lehrer können einerseits Wissen vermitteln, also den Ton angeben, und andererseits zum Selber-Lernen motivieren: die Schüler machen lassen. Es ist schwer und die hohe Kunst, das richtige Maß zu finden. Nicht jeder Lehrer ist ein guter Lehrer, aber es gibt sie (ich hatte einige). Sie brauchen Autorität, Liebe und Vertrauen gegenüber ihren Schülern – und benötigen von Eltern und der Gesellschaft breite Unterstützung. Was dagegen nicht hilft, ist, wenn wir:

über Lehrer meckern – und dadurch ihre Autorität untergraben,
sie durch zu viel Verwaltungsarbeit unter (Zeit-)Druck setzen,
Lehrer mit viel zu großen Klassen allein lassen – und erwarten, dass sie langsam denkende Schüler ebenso erfolgreich beschulen wie superschlaue,
meinen, dass Inklusion in Schule einfach funktioniert, obwohl wir als ganze Gesellschaft daran scheitern,
Flüchtlingskinder ohne Deutschkenntnisse ans Gymnasium schicken und hoffen, dass es irgendwie klappt,
erwarten, dass Lehrer nicht nur lehren, sondern auch erziehen,
ihren Arbeitsplatz reformieren – alle Jahre wieder,
unter dem Stichwort `Medienkompetenz´ den Unterricht digitalisieren,
vermitteln, dass es leicht ist (und zu gut bezahlt), was Lehrer tun.

Es wäre ein Anfang, wenn sich Lehrer ohne all unsere `Hilfestellung´ einfach nur auf ihren Kern-Job konzentrieren könnten: einerseits Wissen vermitteln und andererseits die Schüler zum Selber-Lernen motivieren.

Im Garten

Unter einigen Eiben (im Garten erwünscht) hat sich eine Brombeere (im Garten nicht erwünscht) breitgemacht oder irgendetwas ähnliches mit fiesen Dornen. Die Pflanze treibt jedes Jahr neu aus – zuverlässig und kräftig. Mein Mann sagt, sie ließe sich nicht ausbuddeln; die Stelle sei durch die Eiben zu verwurzelt. Um deren Wurzeln zu schonen, lassen wir die Wurzeln der Brombeere also, wo sie sind. Stattdessen schneide ich die Triebe immer wieder bis auf die Erde zurück. Meist warte ich damit zu lange: Dieses Jahr dauert das Kürzen fast eine Stunde – eine Arbeit, die ich mir auch nicht mit `Bewegung an der frischen Luft´ schönreden kann.

So kann es nicht weitergehen: Die Brombeere muss raus – Eibenwurzeln hin oder her. Ab sofort schonen wir mich!

Von der Hoffnung …

Ich bin mit dem Rad unterwegs: zur Schneiderin, dann Geld abheben und Blumen holen für eine Freundin, die Geburtstag hat. Auf dem Weg zu ihr muss ich eine Brücke passieren. Dort wird gebaut; nur eine Spur steht zur Verfügung. Neben der Bedarfsampel steht ein Schild, dass Fußgängern und Radfahrern die Weiterfahrt untersagt. Da stehe ich mit meinem Blumenstrauß in der Hand und frage mich, wie ich weiterkomme. Nur ein anderer Weg über den Fluss kommt alternativ in Frage: ein Umweg von etwa acht Kilometern – mit dem Rad jetzt viel zu weit. Soll ich einfach trotz des Schildes fix über die Brücke radeln? Auf der abgesperrten Spur ist Platz; Bauarbeiter sind nicht zu sehen. Letztlich traue ich mich aber nicht, das Verbotsschild zu ignorieren. Zu tief sitzt der Drang, offizielle Regelungen befolgen zu müssen.

Ich schiebe das auf meine frühe Sozialisierung im Osten Deutschlands: „Kommen Sie bitte zur Klärung eines Sachverhalts mit auf die Polizeistation.“ Obwohl ich weiß, dass mir das hier auf keinen Fall passieren wird, spüre ich ein Grundgefühl aus Angst und Unsicherheit, sobald etwas nach `illegal´ klingt.

Also radele ich – frustriert mit mir selbst – nach Hause und hole das Auto. Wieder an der Brücke, kommt mir eine Fußgängerin entgegen: fröhlich telefonierend. Im Gegensatz zu mir hat sie sich durch das Schild nicht bremsen lassen. Ich bewundere sie und nehme mir vor, es ihr beim nächsten Mal gleichzutun. Vielleicht gelingt es mir ja dann, meine Prägung zu überwinden. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Jammern auf hohem Niveau

Zwei Frauen im Supermarkt unterhalten sich: „Rate mal, wie viel wir zurückerstattet bekommen haben“, höre ich, „1.000 Euro dafür, weil wir darauf hinwiesen, dass die Zimmer nicht genauso aussahen wie auf den Bildern im Prospekt.“ Wer fragt, gewinnt; wer sich beschwert, wird belohnt – ein typisches Beispiel für Jammern auf hohem Niveau.

Eine Phase

Einige meiner Kinder befinden sich momentan in einer Phase, in der sich das Leben ÜBERALL abspielt – nur nicht zu Hause. Ich hoffe, sie ist wie jede Phase vorübergehend.