Schnittmengen

„Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.“
Galater 3, 28

Wie eng mein Denken ist, wie eingeschränkt mein Sichtfeld. In der Begegnung mit Familie, die mir irgendwie nahe steht und aber doch so ganz anders lebt, habe ich (mal wieder) gemerkt, wie individuell ein Leben sich gestaltet, wie klein die Schnittmengen sind, die unsere Lebensentwürfe haben: Deutsch – weiblich – verheiratet – fünf Kinder – nicht berufstätig – Kleinstädterin… Je mehr ich aufzähle, desto kleiner wird der kleinste gemeinsame Nenner. Und immer mal überlappe ich hier oder da mit dem einen oder der anderen – und komme mit den unterschiedlichsten Menschen innerhalb unserer gemeinsamen Schnittmenge ganz wunderbar zurecht.

Außerhalb der gemeinsam geteilten Lebenswirklichkeit wird es schnell schwierig, vor allem, wenn man gezwungenermaßen miteinander zu tun hat. Viele Eltern bei einem Elternabend zum Beispiel. „Eltern der Kinder einer Klasse“ ist keine besonders große gemeinsame Schnittmenge – vor allem keine, die eng zusammenschweißt.

Es sei denn, am Ende steht Christ. Bei Christus hören die Unterschiede nicht auf, Christus ist die eine Schnittmenge, die mit äußeren Gegebenheiten nichts zu tun hat. Die Tiefe der Begegnung mit Christen verblüfft mich immer wieder; hier können Grenzen wegfallen, die sonst unüberwindbar scheinen. Zwar ist das kein Automatismus für beste Freundschaften, aber treffen kann man sich eben immer bei Jesus – das gemeinsame Gebet ist dafür ein toller Ort.

Abbitte fürs Rasenmähen

Wir haben zwei Bäder. Eins putzen die Eltern, eins die Kinder. Die Standards für „vorher“ und „nachher“ sind klar festgelegt und leicht kontrollierbar. Bisher dachte ich, das gelte auch fürs Rasenmähen. Darum kümmern sich seit einigen Jahren die beiden großen Söhne – 17 und 15 Jahre alt. Angesichts eines bevorstehenden Auswärts-Wochenendes beschloss ich kürzlich, „mal eben schnell“ für sie den Rasen zu mähen. Mit einer dreiviertel Stunde habe ich gerechnet, gedauert hat es doppelt so lang. Aber ich habe noch viel mehr verstanden: Beurteile nicht die Arbeit eines anderen, wenn du nicht um die Schwierigkeiten weißt, die auftreten können.

Viel Moos haben wir im hinteren Teil. Da wächst dann zwar kaum Rasen, aber Moos wächst, verstopft den Mäher, bleibt liegen (trotz des Auffangkorbes) und nervt einfach unheimlich. Mehrere Lösungsansätze bieten sich an. Man kann öfter den Korb leeren, langsamer drüber mähen, immer wieder den abgesoffenen Mäher neu starten: Das mehrfache Starten des Dieselmotors sorgt dann gleich auch für eine Stärkung der Oberarmmuskulatur. Man kann aber auch einfach den Mäher auf „ganz lang“ stellen. Das probate Mittel für Teenager ist die letzte Lösung.

In der Vergangenheit hat mich das geärgert: „Könnt ihr nicht ein bisschen kürzer mähen, könntet ihr hinten bitte auch mit Korb mähen, würdet ihr das mit dem Rasenmähen bitte ernsthafter und sorgfältiger betreiben!!!“ Nach dem heutigen Morgen weiß ich, dass selbst ein gründlicher Typ Mensch gern Prinzipien über den Haufen werfen würde, wenn der Leidensdruck zu hoch wird – und sich vor allem die Sinnhaftigkeit von Gründlichkeit nicht ohne weiteres erschließt. Zwar habe ich kurz gemäht, zwar habe ich hinterher abgeharkt, in Säcke gestopft, was da an Grünzeug lose auf dem Rasen lag, aber: Tut das dem Rasen gut? Geht es dadurch nächste Woche besser? Wird sich das Moos auf wundersame Weise in Luft auflösen oder in mähbaren Rasen verwandeln? Oder hat das alles einfach nur lange gedauert, mich sehr angestrengt und meine Laune nicht unbedingt beflügelt?

„Geschafft!“, sage ich mir, ein schön gemähter Rasen ist da jetzt von der Terrasse aus zu bewundern, für mein Herz und meine Lungen war diese Form der körperlichen Betätigung sicherlich sehr gesundheitsfördernd. Meine Teenager-Söhne finden „geschafft“ auch nach der Hälfte der Zeit wunderbar, erfreuen sich am kurzgeschorenen Rasen nicht mehr als an dem, auf dem die Gänseblümchen noch blühen und finden Herz- und Kreislauf-Ertüchtigung nur mit Ball schön beziehungsweise ganz und gar unnötig.

Ergo? Wenn sie das nächste Mal den Rasen mähen, werde ich bewundernd und lobend zugegen sein, ermutigend auch und sehr, sehr dankbar.

Zuständig versus abkömmlich

Jahrelang hatte ich kleine Kinder um mich – erst eins, dann zwei, dann drei…, dann fünf. Jahrelang waren sie auf mich angewiesen, war ich rund um die Uhr zuständig, verantwortlich, letzte Instanz in allen Fragen oder auch Geschäften. Standardruf von allen und jederzeit: „Mama!“

Tagsüber lesen – unmöglich, tagsüber telefonieren – nur mit halbem Ohr bei den dann besonders viel Quatsch machenden Sprösslingen, tagsüber naschen – nur wenn die Schokoladen- oder Gummibärchen-Ration für alle reicht. Tagsüber irgendwas tun? Gern, wenn Gesellschaft dabei und Unterbrechung darin willkommene Größen sind. Langsam ändert sich das. Die Kinder lernen Vokabeln und fragen sich gegenseitig ab. Der Jüngste macht sich selbständig auf den Weg zu seinem Freund. Reiten, Fußball, Schlagzeug – machen sie alles allein und ohne Erinnerung meinerseits.

Und ich? Hänge noch drin in dem alten Muster. Mich unabhängig zu fühlen und nicht zuständig und – letztlich – sehr abkömmlich: Wenn ich ehrlich bin – das fällt mir schwer. Denn es lässt mich spüren, wie sehr die eine Lebensphase die andere ablöst und wie sehr ich mich neu orientieren muss – aber auch darf.

Noch findet meine 14-jährige Tochter es toll, dass ich mittags hier bin und etwas zu essen da ist und wir gleich oder später oder eben, wann sie will, über die neuesten Ereignisse in der Schule reden können. Aber auch das ändert sich: Einer meiner Söhne ist 15 und verhandelt manche Themen gar nicht mehr mit mir. „Du gehst spazieren? Mit wem denn?“ „Mama!!!!“ Klingt jetzt ganz anders…

Kommunizieren – wie – mit wem – wieviel?

Eine der letztlich sinnlosen Diskussionen mit dem Zweitgeborenen geführt: Wieso ist Kommunizieren heute etwas, was meist digital und möglichst andauernd passiert? Wieso kann man sich nicht in der Schule sehen, verabschieden und dann am nächsten Tag wieder miteinander reden? Dazwischen könnte man den Nachmittag gelangweilt auf dem Sofa, im Garten, beim Sport oder mit Freunden verbringen und abends nach dem Abendbrot ungehetzt noch ein wenig in der Familie präsent sein. Ist ja genug Familie vorhanden.

Stattdessen gibt es gefühlt einen steten Zug raus aus der Gemeinschaft hin zum Rechner oder – bei ihm bald – Handy. Da könnte ja jemand online sein und warten. Das Kind: „Weil ihr unsere Medienzeiten so begrenzt, wollen wir sie immer komplett ausschöpfen.“ Die Eltern: „Weil wir nicht wollen, dass ihr nur noch am Rechner oder Handy hockt, beschränken wir die Medienzeiten.“ Das Kind: „Ihr solltet da lockerer werden.“ Die Eltern: „Die ganz medienfreien Tage sind die schönsten, da ist das Zusammensein hier viel entspannter, eure Präsenz klarer.“

Der Erfolg unserer Maßnahmen sind immer wieder anstrengende Diskussionen, die in zwei Sackgassen enden. Das Kind: „Wir kommunizieren heute anders, findet euch damit ab.“ Die Eltern: „Wir wollen euch gern erleben lassen, dass man nicht nur so wie heutzutage kommunizieren kann – und auch nicht andauernd muss.“

Der von uns angebotene Kompromiss, es – ergebnisoffen (!!!!) – mal ein paar Tage „ganz frei“ in Sachen digitale Medien zu handhaben und dann aber gegebenenfalls wieder Begrenzungen einzuführen, stößt nicht auf Begeisterung. Wie machen das andere Eltern? Wenn wir den Kindern glauben, haben die anderen Eltern sich ALLE komplett aus diesem Thema zurückgezogen. Sie bieten „freie Medienfahrt für freie Kinder“. Sollen/können/wollen wir das glauben? Gibt es etwas dazwischen?

Als ich letztens seufzend (und Verständnis heischend) erwähnte, Elternsein sei ein bisschen „learning by doing“, folgte prompt: „Mama, ihr seid aber noch sehr stark in der learning-Phase.“

Mama und Putzfrau in Personalunion

Papier-Abholung morgen. Schnell noch einen Papierkorb in die Tonne entleert und ab damit auf die Straße, auf der zwei unserer Kinder mit – mir unbekannten – anderen Kindern aus der entfernteren Nachbarschaft spielen: „Und wer sind Sie?“ „Ich? Wer soll ich denn sein, die Putzfrau?“ „Ja, meine Mama hat eine Putzfrau.“ „Ich nicht, ich bin Mama und putze.“

Ich weiß nicht warum, aber dieses kurze Gespräch hat mich irritiert. Ich persönlich würde erstmal davon ausgehen, dass derjenige, der sich auf einem Grundstück um die Mülltonnen kümmert, der Bewohner ist. Für einige Kinder heutzutage (und ehrlich gesagt nicht die Kinder von Schwerreichen, die wohnen hier nämlich nicht um die Ecke) gibt es die Option, dass es sich um Dienstleister handeln könnte. Vielleicht war das früher auch schon so – und ich habe mich nur grundsätzlich in anderen Kreisen bewegt. In wie vielen Haushalten werden – nicht aufgrund von Gebrechlichkeit – Arbeiten ausgelagert, die noch vor 40 Jahren zum normalen Lebensalltag gehörten?

Noch interessanter finde ich, dass ich mich durch die Frage nach meiner Funktion abgewertet fühlte – „nur“ die Putzfrau? Wieso? Ich habe nicht nur die Aufgabe, hier sauber zu machen; ich wohne und lebe hier – und ich mache hier auch sauber, bringe den Müll raus. Ist eine Mutter mehr wert als eine Putzfrau? Vom Verdienst her nicht, aber sonst? Dieser Vergleich ist schwierig und nicht hilfreich. Ist es kein ehrenwerter Beruf, sauber zu machen?

Vielleicht liegt es daran, dass Muttersein für mich soviel mehr ist als ein „Job“ – eine Lebensaufgabe, eine Berufung, ein Geschenk, eine Herausforderung, ein Segen. Für mich beinhaltet er – derzeit – auch das Putzen, aber das ist eben nur ein Aspekt unter vielen. Nicht der beliebteste, nicht der, für den ich am besten geeignet bin, nicht der wichtigste. Die Aussage „Sind Sie hier die Mama?“ hätte mich stolz gemacht – obwohl ich dafür gar nichts kann…

Gleichzeitig oder nacheinander?

Kann ich gleichzeitig lesen und zuhören? Mich selbst überschätzend würde ich sagen: „Na klar!“ Meinem Mann kommen regelmäßig Zweifel – meiner älteren Tochter übrigens auch. Daher stellt sie die kniffligen Fragen gern, wenn ich gerade meine Mails checke, Zeitung lese oder ein Buch. Zwar dauert meine Antwort dann, aber meist lautet sie „Ja“.

Multitasking ist erwiesenermaßen trainierbar, bringt aber nicht viel – die Aufmerksamkeit für die einzelne Aufgabe leidet, sobald eine andere hinzukommt. Logisch, das verstehe ich auch ohne Studie. Es gibt nur bestimmte Dinge, die ich gleichzeitig abarbeiten kann: Ich kann einkaufen und dabei mehrere Kinder im Schlepp haben, auf sie eingehen etc. und sogar Dinge in den Einkaufswagen legen, die NICHT auf meiner Liste stehen. Ich kann dagegen – offenbar – nicht lesen (und den Inhalt verstehen) und dabei mit meinen Kindern so reden, dass meine Antworten Sinn ergeben. Wenn ich darüber nachdenke: Selbst lesen und essen geht bei mir nur nacheinander. Telefonieren und simultan bügeln funktioniert auch nur begrenzt. Spätestens nach zehn Minuten habe ich einen Krampf in der Schulter, die den Hörer am Ohr festklemmt.

Eventuell ist es eine Frage des Alters: Meine Nichte ist Anfang 20 und kann gehen und gleichzeitig verständliche Textnachrichten in ihr Handy tippen. Das werde ich nie lernen. Wie gut, dass ich aus einem Jahrhundert komme, in dem Multitasking noch kein Begriff im normalen Sprachgebrauch war – geschweige denn eine zu erlernende Grund-Kompetenz! (Mein Sohn reagiert auf derartige Erkenntnisse meinerseits immer mit einem seufzenden „Ja,ja, Mama, früher war alles besser.“)

Was geht und was nicht und wer entscheidet das…

Bis vor kurzem dachte ich, Trends seien etwas für Jüngere; aber auch Menschen in meinem Alter argumentieren bisweilen mit: „Das trägt man dieses Jahr so.“ Meine Klamotten fallen für ein derartiges Konsumverhalten nicht schnell genug auseinander – und mein Kleiderschrank ist nicht groß genug.

Noch viel verbreiteter scheint aber ein sehr unterschiedlicher Standard zu sein, was man auf keinen Fall trägt oder besitzt: Für eine meiner Freundinnen sind es Birkenstock-Hausschuhe oder Outdoor-Sandalen (mit oder ohne Socken), für mich sind es SUVs im Stadtverkehr. Was bedeutet das für mein Denken? Erhebe ich mich über die Geländewagen-Fahrerin im asphaltierten Flachland oder lass ich sie fahren, ohne zu beurteilen?

Ich bin immer wieder überrascht, wie unterschiedlich wir ticken. Was für den einen schön ist, stößt den anderen ab. Das ist solange in Ordnung, wie ich den anderen trotzdem einfach machen lasse. Es ist allerdings leichter, sich über Eigenschaften oder Vorlieben aufzuregen – zumindest wenn man die Person dahinter nicht persönlich kennt. Einer Freundin dagegen „verzeihe“ ich mehr – und sie mir. Im Angesicht einer funktionierenden Beziehung fällt schonungslose Abrechnung schwer; wenn ich jemanden mag, bin ich bereit, meine zementierten Ansichten (zu Äußerlichkeiten) zu überdenken. Oder sie werden, was sie im Grunde ohnehin sind – letztlich irrelevant!

Abendmahl

Denn es ist kein Ansehen der Person vor Gott.“
Römer 2, 11

Abendmahlsgottesdienst. Ich darf austeilen. Gern spreche ich den Leuten namentlich zu, dass Jesus für sie gestorben ist, dass er für jeden einzelnen das Kreuz auf sich genommen hat – ob Birgit oder Andrea, ob Jakob oder Jürgen. Alle sind ganz verschieden. Manche kenne ich schon lange, manche kaum – so dass ich nach dem Namen erst fragen muss. Manche stehen mir näher, manche weniger, das Lebenskonzept von X ist mir vertraut, das von Y total fremd. Ganz zu schweigen von den Lasten oder Lastern, in die ich nur bedingt Einblick habe – und trotzdem bin ich schnell mit einem Urteil. Würde ich auch nur für einen von ihnen MEIN Leben geben? Ohne Bedingungen daran zu knüpfen, wie derjenige diesem Opfer gerecht werden sollte? Ich bezweifle es.

Ich weiß nicht, wie dann sowas passiert, aber manchmal schenkt Gott eine Sternstunde. Manchmal öffnet Gott einem ganz unerwartet die Augen für seine Sicht: Für einen Moment konnte ich mit dem Herzen verstehen, wie Jesus uns sieht. Alle anderen und auch mich, die ich durch so manches menschliche Raster mühelos durchfallen würde und für die auch nicht so schnell einer sein Leben geben würde. Eine Schwester nahm mich in den Arm. Nach einer kurzen Pause ging es wieder: „Jesus hat dich lieb, Anke, Jesus ist für dich persönlich ans Kreuz gegangen.“ Keine Wahrheit aus dem Verstand, eine Wahrheit aus dem Herzen.

Als Austeilende überwältigt vom Abendmahl – beschenkt bin ich nach Hause gefahren.

Wann, wenn nicht jetzt? Der richtige Zeitpunkt!

„Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: …. schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit …“
Prediger 3, 1+7b

Leider gibt es bei uns die 21.30 Uhr-Regel. Zwar geht es mir manchmal gegen den Strich, aber eine Abmachung zwischen uns als Ehepaar lautet: Nach halb zehn werden keine wichtigen Gesprächsthemen mehr angesprochen. Aber auch tagsüber ist es bisweilen mehr als schwierig, den richtigen Zeitpunkt abzupassen: So wichtig kontroverse und konstruktive Streitgespräche der Eltern sind, so wenig brauchen sie den Nachwuchs als Zeugen oder Moderator. Und wenn es nur die Kinder wären! Nein, es gibt noch viel mehr Grund, Dinge nicht anzusprechen: Müdigkeit, Frust, Eile – um nur einige zu nennen.

Kurzfristig betrachtet kann ich mich darüber ärgern: Manche Dinge erscheinen so drängend, die müssen doch einfach raus! Ein Problem will unbedingt angesprochen werden, die Wahrheit muss auf den Tisch – Aufschub scheint unmöglich. In mir brodelt´s.
Langfristig gesehen weiß ich inzwischen, dass die Wahl des richtigen Zeitpunktes mehr als das Zünglein an der Wage sein kann: Hier entscheidet sich oft Erfolg oder Misserfolg eines Anliegens, der richtige Moment kann die Stimmung in die eine oder andere Richtung kippen lassen. Wann ich herausplatze mit welchem Problem, vermittelt manchmal Wertschätzung, manchmal Ignoranz.

Erst überlegen, dann reden – das entspricht wahrscheinlich nicht hundertprozentig meiner Persönlichkeit, kann aber schlau sein. Dringlichkeit ist dagegen oftmals ein schlechter Ratgeber. Irgendwo dazwischen liegt der richtige Zeitpunkt.

Christus und ich

Eine Frage, die mich seit einigen Jahren immer wieder beschäftigt, ist die nach der Berechtigung von Unzufriedenheit in meinem erfolgreichen, gesegneten Leben als langjährige Christin in einem reichen Land, in dem ich weder verfolgt noch aufgrund meines Glaubens bedroht werde. Ich weiß, dass Unzufriedenheit mit Undankbarkeit zu tun hat und nichts Positives bringt. „Sei dankbar in allen Dingen“, heißt es in der Bibel; und das stimmt ja auch wirklich, das tut mir ja auch gut. Ich höre oft, dass mit Gott alle Mauern zu überspringen sind, dass ich in IHM und mit IHM alles habe, was ich brauche, dass Dankbarkeit der Schlüssel zur Zufriedenheit ist und solche Dinge. Aber im ganz normalen alltäglichen Leben ist Gott eben nicht so häufig gleich und einfach zu erfahren. Manche Lebenswendungen erklären sich mir bisweilen auch nicht im Nachhinein – so sehr ich mich mühe, ihnen Gutes abzugewinnen. Und dann gibt es sie eben doch, diese leise Stimme, die sich hin und wieder in mir zu Wort meldet: `Es geht mir nicht so gut, wie ich es gern hätte. Ich bin unzufrieden oder sogar unglücklich, ich möchte aus meinem Leben ausbrechen, auch wenn es noch so viele sehr beneidenswerte Umstände gibt, in denen ich lebe.´ Zunächst bin ich versucht, diese Stimme zum Schweigen zu bringen, weil sie so undankbar klingt und so unheilig und so ungeistlich – und es vielleicht ja auch ist. Aber nach einiger Zeit kommt sie wieder; und immer mehr habe ich den Eindruck, ich müsste mich ihrem Reden stellen.

Zwischen Pro und Kontra

Ich bin verheiratet – ein Umstand, den sich viele wünschen und nicht haben, ich weiß. Aber das ist eben auch anstrengend. Ich habe zu Dingen eine andere Meinung als er, wir müssen uns einigen. Kompromisse sind nicht immer einfach und eben auch genau das – Kompromisse. Ja, mein Mann hat Werte und Prinzipien, unterstützt und liebt mich etc.
Dennoch gibt es manchmal eine Sehnsucht in meinem Innersten nach genau den Eigenschaften und der Art Verständnis, die er eben nicht mitbringt. Klar, ich kann mir genügen lassen an dem, was ich habe, kann dankbar sein. Aber ich darf mir auch zugestehen, dass es da ein kleines Defizit gibt, dass ich mich unverstanden fühle und nach 20 Ehejahren im Alltag zu wenig bewundert, zu wenig bestaunt (auch wenn dem de facto gar nicht so ist).

Ich habe Kinder – ebenfalls ein Segen, der nicht allen zuteil wird. Und wahrscheinlich kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, was es heißt, in diesem Bereich jahrelang auf Erfüllung starker Wünsche zu warten und zu hoffen, darum zu beten, und letztlich doch ohne Kind dazustehen. Wie schwer muss es sein, trotzdem noch Gott als den liebenden Vater zu kennen, der weiß, was gut ist für mich – wo es mir doch gar nicht gut damit geht!
Andererseits verändern Kinder ein Leben eben so umfassend, dass nicht nur Erfüllung auf der Liste steht, sondern auch Verzicht. Verzicht auf Selbstbestimmung, manchmal jahrelang. Verzicht auf Freiheit und Spontaneität, vom Verzicht in finanzieller Hinsicht, den einige noch dazu zu tragen haben, ganz zu schweigen. Verzicht vielleicht auch auf eine Arbeit und Karriere, die mich erfüllen würden, für die ich begabt wäre. Und manchmal sehe ich nur diese Seite der Medaille und fühle mich älter werdend und betrogen um Anerkennung im Beruf, eigenes Geld, Feierabend, kinderfreie Zeiten oder Zonen in meiner Wohnung, meinem Haus.

Zwischen Ist und Soll

Ich habe so viel, was andere nicht haben. Ich könnte, nein, müsste so unsagbar glücklich und zufrieden sein. Bin ich auch meistens. Mein Jammern findet auf einem sehr hohen Niveau statt. Aber auch in meinem so optimal laufenden Leben gibt es eben Dinge, die mich anstrengen und ermüden, die mich frustrieren und enttäuschen und in denen ich Jesus erstmal nicht erlebe. Er ist in allem drin und immer an meiner Seite, das weiß ich, aber ich merke es eben nicht immer. Jedenfalls kommt es bei mir nicht an. „Lass dir an meiner Gnade genügen“, das ist eben schwierig in der Praxis, das erlebe ich nur manchmal, das sind Sternstunden. Häufiger sind die Zeiten, in denen ich das durchbuchstabiere, wie wir Christen es oft so schön formulieren, und sich das dazugehörige gute Gefühl trotzdem nicht einstellt. Es bleibt beim Verstandeswissen, es rutscht nicht ins Herz. Dann möchte ich mir nicht am unsichtbaren und nicht greifbaren Jesus genügen lassen, sondern direkte Erfüllung meiner Wünsche und Bedürfnisse. Und schon fühle ich mich nicht dankbar, sondern muss mich dafür entscheiden, dankbar zu sein.

All das klingt nach einer sehr unzufriedenen Frau. Ist mein Glas immer nur halb voll? Nein, überhaupt nicht. Meist bin ich gut drauf, schenkt Gott Gelingen, kann ich dankbar sein von „ganz allein“, verstehe ich mich gut mit Mann und Kindern, habe Freunde und fühle mich so unsagbar wohl in meinem Leben. Diese anderen Momente sind selten, aber vorhanden – und mir drängt sich die Frage auf, ob diese anderen Momente nicht aber eben diejenigen sind, in denen sich mein Christsein bewähren sollte.

Stattdessen gewinne ich zunehmend den Eindruck, in meinem Leben kaum einen Unterschied zu machen. Sehen Menschen Jesus, wenn sie mich sehen? Lebe ich anders, streite ich anders, erziehe ich anders, verzeihe ich anders, bin ich anders zufrieden? Bin ich Salz für diese Welt oder wenigstens für meine Nachbarn? Gehe ich anders um mit den Unwägbarkeiten meines Lebens, mit meinem Frust, mit meinem Stress, mit den Dingen und Menschen, die mir auf den Keks gehen? Ich hoffe es, aber oft merke ich nichts dergleichen.

Mit den Jahren, in denen ich mich besser kennenlerne, fällt es mir auf, dass der größere Teil meiner Erdenjahre über meine Kraft hinaus herausfordernd ist, dass dieses oft so wunderbare Leben hier nur ein Abklatsch sein kann von dem, was noch kommt. Das hoffe ich zumindest. Die Momente des Einsseins mit Gott, der Gottesbegegnung sind eben Momente und nicht die Regel. Gott macht sich mir so fremd, so unabhängig; seine Erhabenheit und Unerreichbarkeit drängen sich fast schmerzhaft in mein Bewusstsein. Mir jedenfalls gelingt es nicht, eine Dauergemeinschaft mit ihm herzustellen oder vielleicht auch zuzulassen und auszuhalten, weil ich eben doch so sehr Mensch bin.

Ich weiß nicht, was die Ursache ist. Ich höre in mich rein und sehe in die Abgründe meiner Seele. Ich bin egoistisch, heuchelnd, unversöhnlich, leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen (und was weiß ich noch) und eben auch manchmal unzufrieden – und ich werde ohne (und vielleicht sogar trotz) Jesus immer genau das bleiben. Nichts davon kann ich willentlich abstellen, manches davon lebe ich ganz bewusst aus, wenn auch nur in Gedanken. Da bin ich ganz Teil dieser Welt und scheine mich auch nur minimal von ihr abzuheben – wenn überhaupt.

Dennoch!

Macht mich das zu einem schlechten oder unreifen Christen? Habe ich mich vor 25 Jahren nicht schon deutlich weiter gefühlt, deutlich heiliger und besser? Wenn es so weiter geht, empfinde ich meine geistliche Entwicklung als eher rückläufig. Und ich bin ein bisschen gespannt, was noch so alles offenbar wird in mir. Und wie Jesus damit umgehen wird.

Das ist nämlich die Kehrseite: Jesus wird mir ferner und näher zugleich. Ich staune anders als früher darüber, dass ich angenommen bin und geliebt, dass Jesus stirbt für meine Schuld, von der ich so viel mehr wahrnehme als vor 25 Jahren. Ich erlebe, wie individuell seine Wege mit uns sind, wie einzigartig (und oft auch schwer vermittelbar) unsere Gottesbegegnungen und wie viel Veränderung er eben doch schenkt in mir. Und DAS ist etwas, worin ich dann doch geistlich gesehen erwachsener werde und entspannter und über Gott juble: Er erreicht mich da, wo ich bin, und so, wie ich es brauche und tut tatsächlich etwas: Meine Rechthaberei hat über die Jahre weichere Züge angenommen, meine Bereitschaft, den ersten Schritt zu machen, ist gewachsen. Mit meinen nicht erfüllten Bedürfnisse gehe ich öfter schon mal früher ins Gebet und zu Jesus und erfahre den Frieden darüber, den eben nur er schenken kann. Es gäbe noch andere Beispiele. Nur eins: Ich bin viel dankbarer geworden für vermeintliche Selbstverständlichkeiten und nehme diese für das, was sie sind – ein Segen, ein unverdientes Geschenk. Meistens. Die noch immer auch vorkommenden Zeiten der Unzufriedenheit müssen wir beide aushalten – Christus und ich.