Verborgen

Ich kenne meine Kinder gut. Denke ich. Ich kenne sie schließlich schon ihr Leben lang und bin noch viel mit ihnen zusammen. Größtenteils durch meine Zuwendung sind sie zu dem geworden, was sie heute sind. Einige ihrer Eigenarten und Angewohnheiten leben sie nur in Familie aus. Grund dafür sind das Vertrauen und die besondere Wahrhaftigkeit, die innerhalb von Familie existieren: Es gibt Teile ihrer Persönlichkeit, die teilen unsere Kinder explizit lieber (oder sogar nur) mit uns Eltern und Geschwistern als mit anderen. Kenne ich sie also gut?

Kürzlich kam ich ins Wohnzimmer und es lief Musik, ziemlich laut. Das ist an sich nicht ungewöhnlich und wunderte mich nicht. Dass aber einer meiner Söhne ohne Text- oder Melodie-Unsicherheiten mitsang – überraschte mich. Dass er sich noch dazu mit ausgeprägtem Rhythmus-Gefühl sehr geschmeidig bewegte – ließ mich staunen. SO hatte ich ihn noch nie wahrgenommen, DIESE Seite an ihm war mir bislang verborgen.

Ich ahnte zwar, dass meine Kindern sich bei Feiern und unter Gleichaltrigen anders benehmen als zu Hause. Klar. Jetzt weiß ich, dass sie Teile ihrer Persönlichkeit explizit lieber (oder sogar nur) mit anderen teilen als mit uns.

Das Zusammenleben mit Kindern ist wie ein Abschiednehmen auf Raten. Ich bin dankbar, wenn ich einen kleinen Teil davon wahrnehme, wer und wie sie außerhalb und unabhängig von der elterlichen Obhut sind. Der größere Teil bleibt mir zunehmend verborgen: Mein Kind, das unbekannte Wesen.

Küchenschränke

Grundsätzlich liebe ich es sauber und aufgeräumt. Meine Ansprüche in Sachen „gründliches Reinemachen“ sind jedoch in den letzten Jahren von einem hohen Level abgesunken auf ein Maß, mit dem ich leben und das ich gut leisten kann. Es ist nicht schmutzig bei uns, aber ich kann mich mit vielen anderen Dingen besser beschäftigen als zum Beispiel mit dem Auswischen von Küchenschränken.

In der Teeküche der Schule, in der ich regelmäßig aushelfe, machten wir vor den Weihnachtsferien gründlich sauber. Diese Putzaktion löste in mir ein schlechtes Gewissen aus hinsichtlich meiner eigenen Küchenschränke: „Habe ich lange nicht gemacht, wäre mal wieder nötig“, so kreisten meine Gedanken. Allerdings setzte ich diese nicht sofort in die Tat um. Ein Hinderungsgrund für derartige Reinigungsaktionen ist der Faktor Zeit: Es dauert lange – was könnte ich stattdessen alles tun. Ein weiterer Hinderungsgrund ist der auf den ersten Blick nicht sichtbare Effekt: Kein Mensch sieht, dass meine Schränke innen sauber sind – von außen nicht einmal ich selbst.

Heute kämpfte ich mit Spannungsschmerzen in der Halswirbelsäule und fragte mich, was mir unverkrampfte, leichte Bewegung verschaffen würde. Da fielen mir die Küchenschränke wieder ein. So machte ich mich an die Arbeit und wischte mich durch die Fächer, während zwei Kinder sich mit Latein-Vokabeln und Mathe-Gleichungen beschäftigten.

Was soll ich sagen: Die Vokabeln des einen und die Mathe-Aufgabe der anderen lenkten mich ab – und erfreuten mein Hirn ob der ihnen innewohnenden Logik (ein Level, auf dem ich noch mithalten kann). Sozusagen „nebenbei“ wurden meine Küchenschränke sauber. Jetzt drängt sich die Halswirbelsäule langsam wieder in mein Bewusstsein; aber in den Nachmittagsstunden hätte ich mich nicht besser beschäftigen können.

Dass ich das jemals über eine Putzaktion in meiner Küche aussprechen würde…

Nicht viel, sondern gezielt

Ein Freund von mir hatte im Herbst einen Bandscheibenvorfall. „Dagmar, ich habe einfach zu wenig Muskeln“, sagte er am Telefon (er hatte plötzlich viel Zeit zum Telefonieren), „ich habe nur gar keine Lust, meine Muskeln zu stärken. Es ist schade, dass Tennisspielen nicht ausreicht; ich mache nicht gern Gymnastik.“

Ich kann ihn verstehen: Auch ich mache nicht gern Gymnastik. Anstatt Tennis zu spielen laufe ich, aber leider ist das allein für einen ausgewogenen Muskelaufbau im Rücken- und Rumpfbereich ähnlich wenig hilfreich wie Tennis. Auch meine regelmäßigen Pilates-Einheiten retten mich nicht: Seit einigen Monaten habe ich – trotz aller Bewegung – Probleme mit dem Ischias-Nerv und zusätzlich einen sehr verspannten Rücken.

Ich befürchte, dass es mit unserem Alter zu tun hat: Wir bewegen uns fast noch so gern und viel wie früher, aber unser Körper ist anspruchsvoller geworden. Einseitige Bewegungsmuster gleicht er nicht mehr aus, sondern reagiert mit Überlastung oder Unterentwicklung – beides äußert sich in Schmerzen, die wir früher nicht hatten.

Seit dieser Woche gehe ich zur Physiotherapie. Nach der ersten Sitzung hatte ich drei Tage lang Druckschmerzen im Rücken – Physiotherapeuten haben starke Fingermuskeln. Ihre Lockerungshilfen kommentierte die Physiotherapeutin mit der dahingeworfenen Bemerkung, es könne dauern, die Verspannungen zu lösen, die ich mir jahrelang antrainiert hätte. Es war nicht vorwurfsvoll gemeint. Sie benannte nur, was ich nicht hören will: dass mein normales Bewegungspensum nicht nur gut tut. Offenbar werden trotz regelmäßiger sportlicher Bewegung bestimmte Muskelgruppen vernachlässigt; der Gesamtapparat „Körper“ versteift. Was früher funktioniert und ausgereicht hat, ist heute zu wenig.

Es gibt kein Patentrezept, aber es gibt ein Zauberwort: Mit zunehmendem Alter muss man gezielt etwas für die Beweglichkeit und die Muskulatur tun. Leider bedeutet das: Es reicht nicht, dass man sich einfach so und viel bewegt, sondern gezielt. Vielleicht sogar in Form von Gymnastik?

Ein Lächeln im Supermarkt

Ich gehe meist vormittags einkaufen, wenn die Regale voll, die Flure leer und die Verkäufer noch frisch sind. Ab und zu verschlägt es mich aber doch zur Feierabendzeit in einen Supermarkt – und jedesmal fällt mir ein Unterschied auf: Zum einen sind mehr Leute unterwegs, die gestresst wirken, weil sie schon einen Arbeitstag in den Knochen haben. Zum anderen sind Verkäufer unterwegs, die abgearbeitet wirken, weil sie schon einen Arbeitstag in den Knochen haben – und vielleicht sogar einige weniger angenehme Begegnungen mit gestressten Kunden.

Gestern Abend um 17 Uhr traf ich auf eine solche Kassiererin. Sie sah unkonzentriert und gelangweilt aus und starrte sekundenlang ins Leere, sobald ihre ansonsten automatisierten Handgriffe durchs Bezahlen kurz unterbrochen wurden. Ihr Blick schien ausdruckslos und abgeschlafft, das Gesicht ernst und abwesend. Während ich noch in der Schlange wartete, gab es offenbar einen Blickwechsel mit ihrer Kollegin an der anderen Kasse. Ohne Worte stahl sich ein Lächeln in das Gesicht „meiner“ Kassiererin – die Veränderung war frappierend: Die Mundwinkel gingen minimal in die Höhe (es war „nur“ ein Lächeln, kein Lachen), die Augen öffneten sich ein wenig, die Wangen wurden straffer, Lachfalten tauchten auf. Das ganze Gesicht sah schön aus, weich, freundlich, entspannt, wach.

So hatte ich die Frau noch nie gesehen – so schön! Ich glaube nicht, dass ihr in diesem Moment bewusst war, dass sie jemand ansah und sich über ihr Lächeln freute. Es war auch schnell wieder vorbei. Aber ich hatte es gesehen und musste ebenfalls lächeln, doch das hat niemand bemerkt. Oder? Wer weiß.

Schade

Zu Weihnachten bekam ich ein Buch, das ich mir gewünscht hatte. Es enthält kurze Texte zu verschiedenen Themen. Geschrieben hat es ein Journalist und Autor, dessen Kommentare ich gern in unserer Tageszeitung lese. Diese Kolumnen sind jedesmal schlau geschrieben, kurz und aus einer interessanten Perspektive heraus formuliert. Vor ein paar Tagen fing ich mit dem Buch an – und war enttäuscht: Seine Kolumnen gefallen mir besser! Die kleinen „Anekdoten“ (in diesem Buch zumindest) sind längst nicht so gescheit geschrieben, nicht prägnant genug, erschreckend leseunfreundlich strukturiert, thematisch zu ausufernd und (für mich) nur mäßig interessant. Beim Lesen dachte ich: Es klingt, als hätte der Autor sich keine Mühe gemacht, geduldig die wesentliche Aussage herauszuarbeiten und den Texten dadurch seine besondere „Schreibe“ zu verleihen. Schade.

Recycling

Ein inzwischen verstorbener Freund schrieb seine Briefe an mich immer auf alten Rechnungen oder dergleichen. Er benutzte, was er hatte – nämlich kein „richtiges“ Briefpapier, sondern die leeren Rückseiten einseitig bedruckter Blätter. Es irritierte mich anfangs, doch ich merkte schnell: Unabhängig vom verwendeten Papier war der Briefinhalt in seinem Fall jedesmal persönlich, wertschätzend und schön formuliert – also wunderbar und höchst willkommen.

Kürzlich „erbten“ meine Töchter fast neues Briefpapier – mit Diddl-Zeichnungen. Sie haben dafür keine Verwendung. Zum einen steht Briefschreiben nicht hoch im Kurs bei ihnen, zum anderen sind sie dem Diddl-Alter längst entwachsen. Die Folge ist, dass nun ich diverse Blöcke Diddl-Briefpapier besitze und benutze. Denn, auch wenn ich erst recht nicht mehr im Diddl-Alter bin: Es fällt mir schwer, noch gut beschreibbares Papier einfach wegzuwerfen. Außerdem ist es mir nicht peinlich, darauf Briefe an Menschen jeden Alters zu schreiben und ohne erklärenden Kommentar zu verschicken.

Diddl-Briefpapier ist nicht ganz so cool wie alte Rechnungen, aber das Prinzip dahinter ist dasselbe – pragmatisches Recycling ohne Chic.

Hin und her

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“
Psalm 90, 12

Dieser Vers zwingt zu einem ernsthaften Realisieren der Vergänglichkeit des Lebens, obwohl sich der Gedanke an das Ende gut verdrängen lässt – auch, weil ich nicht weiß, wann das Ende da sein wird. Ich weiß nur: Dieses Leben geht vorüber.

Sollte ich also oft an den Tod denken, stets mit ihm rechnen, mir selbst und meinen Lieben täglich mein drohendes Sterben in Erinnerung rufen? Ich glaube nicht. Wir können nicht mit der ständigen Perspektive der Endlichkeit durch unsere Tage gehen: „Es könnte das letzte Mal sein, dass wir in der Runde so zusammenkommen; vielleicht werde ich nie wieder so etwas Tolles erleben; was, wenn das mein letzter Sommer wäre?“ Das Ziel ist weder ein Gefühl der Traurigkeit oder gar Ohnmacht noch depressiver Fatalismus. Ich soll nur nicht verdrängen oder ignorieren, dass meine Tage begrenzt sind. Es ist klug, wenn ich dieser Wahrheit Raum gebe in meinem Denken.

Dem gegenüber steht ein anderer Vers, der mich gedanklich auf das Heute fokussiert. Aus seinen Zeilen klingt Leichtigkeit:

„Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.“
Matthäus 6, 34

Wie beruhigend: Der morgige Tag muss mich heute noch gar nicht interessieren. Den Herausforderungen von heute kann ich mit Schwung und Kraft begegnen, das Glück von heute darf ich mit allen Fasern genießen. Morgen ist heute zweitrangig, morgen kommt mit seinen eigenen Überraschungen – vielleicht positiv, vielleicht negativ.

Zwischen diesen beiden Versen schwingt mein Bewusstsein hin und her. Eine gute Balance habe ich, wenn ich weder auf der einen noch auf der anderen Seite verharre. Gedankliche Weite zulassen, die Spannung aushalten, aktiv Schwung holen und immer wieder die Mitte suchen – ausgewogenes Leben ist wie schaukeln.

Hat Ehrlichkeit Grenzen?

Wie ehrlich sollen Menschen mir gegenüber sein? Was will ich wissen, was lieber nicht?

Noch vor einigen Jahren hätte ich – ganz klar – gesagt: Ehrlichkeit ist IMMER besser als Unehrlichkeit oder zurückhaltendes Schweigen. Der Ton ist wichtig, aber (ehrlich gesagt) vielleicht doch zweitrangig.

Mittlerweile bin ich nicht mehr so sicher. Wenn ich meinem Mann einen Gefallen tue, bin ich enttäuscht, wenn er mir – ganz ehrlich – sagt, dass ihm dieser nicht viel oder nichts bedeutet. Dass meine Kinder (ehrlich gesagt) auch ohne meine Hilfe, meinen Rat und meine Anteilnahme sehr gut leben und handeln können, stimmt mich – neben allem Stolz – auch ein wenig traurig.

Wäre es besser, mich zunehmend mit der Wahrheit zu verschonen, um mir meinen Frieden oder die Illusion eigener Bedeutsamkeit zu lassen? Wenn hinter meinem Rücken gesagt würde: „Ach, mit der kann man nicht offen und ehrlich reden.“ – Wäre mir das lieber? Ich bezweifle es.

Wenn ich ehrlich bin: Die Ehrlichkeit und ich, wir haben ein ambivalentes Verhältnis.

Mehr als nur putzen

Unsere vier großen Kinder müssen, dürfen, sollen abwechselnd eins unserer Badezimmer putzen. Jeder macht es ein bisschen anders gründlich, besonders gern macht es keiner von ihnen. Letzten Samstag war ein Sohn dran, der sich anschließend gebührend aufregte über „Mädchen-Haare, -Schminksachen und -Deos, die überall herumstehen oder -liegen“ und immerzu im Weg sind.

Als ich heute dieses Bad betrat und benutzte, freute ich mich darüber, wie sauber und aufgeräumt es ist. Und ich dachte: So sehr sie diese Aufgabe nervt, so schnell aus ihrer Sicht die vier Wochen vergehen, bis der Einzelne wieder dran ist – so wunderbar dient dieses Bad-Putzen ihrer Persönlichkeit. Den eigenen Dreck zu beseitigen ist nicht schwer; sich um die Hinterlassenschaften anderer zu kümmern – das ist die höhere Kunst der Lebensschule.

Keine Geschenke

Ich bekomme und mache gern Geschenke. Trotzdem fällt es auch mir manchmal schwer, zu einem bestimmten Zeitpunkt – Geburtstag, Weihnachten – gute Geschenk-Ideen zu haben. Meine Geschwister und ich beschlossen daher vor Jahren, uns gegenseitig keine Geburtstags- oder Weihnachtsgeschenke zu machen. Das ist praktisch, wir empfinden es alle drei als Entlastung.

Besonders zwischen meiner Schwester und mir bedeutet diese Regelung jedoch nicht, dass wir uns nichts zuschicken – nämlich unserer Meinung nach lesens- und empfehlenswerte Lektüre. Wir lesen beide gern; und obwohl unser Geschmack nicht immer absolut übereinstimmt, bereichern die Buchgeschenke der einen die Lese-Erfahrung der anderen. Diesen Sendungen liegt stets der Hinweis bei, die Gabe nicht (miss-)zu verstehen. „Liebe Dagmar, das ist kein Ostergeschenk…“, las ich entsprechend gestern in dem Brief, den ich aus dem Briefkasten fischte. Beiliegend fand ich ein Buch, über das wir kürzlich am Telefon gesprochen hatten.

Ich genieße diese „Briefe“ von meiner Schwester sehr, denn sie kommen immer unerwartet und überraschend. Wir schenken uns nichts, meine Schwester und ich: Wir machen uns nur gegenseitig regelmäßig ein Nicht-Geschenk und damit jedesmal eine große Freude.