Warten im Supermarkt

Letztens habe ich viel eingekauft. Die Kasse war leer, ich konnte gleich alles aufs Band legen. Die Kunden nach mir – ein älteres Ehepaar im Rentenalter – riefen umgehend nach einer zweiten Kasse. Es dauerte ein bisschen. Eine zweite Kassiererin kam nicht so schnell wie von den Kunden gewünscht. „Welche Kasse öffnen Sie denn?“, in der Frage schwang einiges mit: Eile, Hektik, Ungeduld.

Ich kann es verstehen, ein bisschen: Auch für mich gibt es Schöneres als einzukaufen. Ich lese lieber ein Buch oder gehe eine Runde joggen. Andererseits ist das Einkaufen von Lebensmitteln keine Strafe, sondern ein Privileg: Es gibt ALLES! Das Endergebnis ist wunderbar, denn ich hole nach Hause, was uns schmeckt und satt macht. Wahrscheinlich ist es gar nicht das Einkaufen selbst, was die Leute schnell hinter sich bringen wollen. Die Eile kommt erst in dem Moment, in dem es ans Warten geht. Warten an der Käse- oder Fleischtheke, warten an der Kasse.

Ich möchte diese Wartezeit an sich nicht als „verbrannte Lebenszeit“ verstehen. Manchmal rede ich mit einer Verkäuferin, einer anderen Kundin oder der Frau an der Kasse. In aller Ruhe – ich hatte schon sehr freundliche Begegnungen mit Menschen, die dort arbeiten oder selbst einkaufen. Es ist nicht schlimm, dass wir uns treffen; es kann sogar schön sein. Und selbst wenn ich nur warte, empfinde ich die Zeit nicht als verloren. Ich erlebe sie als einen Moment des Innehaltens. Das bekommt mir besser, als wenn ich der Ungeduld in mir Raum gebe.

Ich schätze, ich brauche kaum länger fürs Einkaufen als diejenigen, die schnell nach einer zweiten Kasse rufen. Letztlich ist es mir egal: Einkaufen und das damit verbundene Warten gehören zu meinem Leben dazu – wie lesen und joggen.

Der Bessere möge gewinnen?

Eine Weisheit Dantes lautet: „Möge der Bessere gewinnen.“ Ich stimme ihr ohne Zögern zu – auf den ersten Blick.

Auf den zweiten Blick: Denke ich wirklich so gerecht? Will ich immer, dass der Bessere gewinnt? Wenn Deutschland ausgeschieden ist bei der WM, der EM oder sonstwo – ja, dann kann meinetwegen der Bessere gewinnen. Solange Deutschland dabei ist, freue ich mich immer, wenn wir gewinnen – egal ob wir wirklich besser waren oder nicht. Ich kann auch mit einem unverdienten Sieg gut leben, jedenfalls viel besser als mit einer unverdienten Niederlage! Ebenso geht es mir bei meinen Kindern und ihren Mannschaften: Sie müssen schon grottenschlecht spielen oder unfair oder von Anfang an haushoch unterlegen sein, damit ich eine Niederlage wertneutral oder zufrieden hinnehme – wenn auch hauptsächlich um ihretwillen.

Es gibt sicherlich Bereiche, in denen ist es mir egal. Ob Deutschland beim Anbau von Mangos gut abschneidet zum Beispiel, das ist mir egal, das ist nicht unser Ressort, das können andere besser – und darüber freue ich mich dann auch. Oder wenn mein Sohn den Vorlesewettbewerb nicht gewinnt, auch das kann ich gut aushalten – denn: Vorlesen ist nicht seine größte Stärke, das können andere sicherlich besser. Gewönne er, würde ich mich freuen, klar. Aber eher für ihn; ich liebe ihn auch ohne Sieg, ich bin sowieso stolz auf ihn und freue mich, dass er überhaupt liest.

Wenn es im Rahmen des Erreichbaren erscheint, dass jemand etwas gewinnt, dem ich mich irgendwie verbunden fühle: dann bin ich letztlich immer für denjenigen. Dann bin ich total parteiisch. Auch wenn mir die deutsche Nationalmannschaft nur durch ihre Nationalität nähersteht als die französische, hätte ich mich für die Deutschen sehr gefreut. Persönlich kenne ich in keiner Mannschaft jemanden; jeder hat genauso hart trainiert und genauso viel Geld dabei verdient. Es könnte mir total wurscht sein. Auch ändert sich für mich nichts, das merke ich doch: Heute ist es schon wieder Schnee von vorgestern, dass dieses Jahr die Franzosen Weltmeister geworden sind – nur eine Notiz in der Statistik. Ein Freund von mir kennt sich besser aus als ich. Er sagt, die Franzosen waren dieses Mal einfach besser. Ich schätze allerdings, das ist letztlich egal. Am Ende zählt nur der Sieg. Von wegen „der Bessere möge gewinnen“!

Ich lese viel und trotzdem …

Im Gespräch mit einer Freundin ging mir (und ihr) kürzlich auf, dass ich Wolfgang Herrndorf nicht kenne. Der Name sagte mir nichts. Der Blick meiner Freundin war deutlich: „Das kann nicht wahr sein, die kennt den nicht.“ Der Titel seines bekanntesten Buches „Tschick“ sagte mir dann doch etwas, aber ich hab´s nicht gelesen. Und nur vom Reinschauen – Schullektüre meiner Tochter – habe ich den Autorennamen nicht behalten.

Mir geht’s jetzt gar nicht darum, ob mir durch meine Ignoranz etwas entgangen ist oder nicht. Lektüre ist ohnehin Geschmackssache. Mir geht’s um etwas anderes: Was muss ich gelesen haben als Deutsche in Deutschland im 21. Jahrhundert? Welchen Autor muss ich kennen? Gibt es einen aktuellen Buch-Kanon, der Kulturgut ist, wird, sein sollte?

Grundsätzlich halte ich mich für eine Viel-Leserin – ohne dass ich weiß, wo beim Lesen der Durchschnitt liegt. Ich lese weder Arzt-Romane noch die Gala, auch Fantasy-Bücher sind nicht so meins, ich lese nur selten Krimis und kaum Sachbücher. Und doch lese ich relativ viel – vor allem Romane, gern auch Biografien und geistliche Bücher, am regelmäßigsten Bücher der Bibel. Und: Ich lese gern auf Englisch. Das schränkt mein Wissen um deutsche Literatur natürlich ein. Ob ein Buch auf der Spiegel-Bestseller-Liste steht oder nicht, interessiert mich nicht und ist kein ausschlaggebendes Kriterium. Auch beobachte ich nicht die aktuellen Neuerscheinungen oder die Frankfurter Buchmesse. Von daher bin ich wahrscheinlich nicht up to date, was „man“ so liest.

Viel zu lesen, ist nicht dasselbe wie Belesensein. Viel zu lesen, sorgt nicht dafür, dass ich die wichtigen Autoren kenne. (Wer auch immer festlegt, welcher Autor wichtig ist und welcher nicht.) Viel zu lesen, macht mich wahrscheinlich noch nicht einmal besonders schlau. Höchstens rechtschreibsicher, aber auch das ist nicht garantiert. Viel zu lesen macht mir Spaß, entspannt mich und erweitert meinen Horizont. Was ich lese, entscheidet darüber, in welche Richtung er erweitert wird. Dass ich Wolfgang Herrndorf nicht kenne, heißt nicht, dass ich die falschen Bücher lese. Auch wenn ich das einen klitzekleinen Augenblick gedacht habe.

Luxus – braucht keiner und trotzdem erstrebenswert?

Kürzlich hatte ich ein kurzes Gespräch mit einer flüchtigen Bekannten, einer jungen Mutter. Es ging darum, was für die Vereinbarung von Familie und Beruf besser ist: in der Nähe der Eltern bleiben – auf dem Land – und weite Wege haben oder aber wegziehen – in Stadtnähe, kürzere Wege haben und keine Großeltern am Ort. Ihre Tochter ist anderthalb. Es gibt keine Standardlösung – wie immer.

Als ich sagte, ich sei noch immer hauptsächlich zu Hause und mein Jüngster sei neun Jahre alt, kam eine überraschende Antwort: „Luxus“, sagte sie. Diese Bemerkung schwingt in mir nach, denn in diesem Zusammenhang ist das Wort noch nie (und wenn, dann nur äußerst selten) gefallen.

Luxus ist laut Wikipedia etwas, was man nicht braucht, was teuer ist und nicht für jeden erschwinglich – und deshalb für viele erstrebenswert. In unserer Gesellschaft scheint es mir erstrebenswert zu sein, arbeiten zu gehen – für Männer und Frauen und auch für Mütter. Das Zuhause-Sein mit Kindern wird immer mehr zu einer zeitlich begrenzten Zwischenphase, die nicht das Eigentliche ist. Das Eigentliche ist der Beruf, der Job, das Geld, das man damit verdient, die Anerkennung, die man damit bekommt. Zumindest ist das mein Eindruck.

Für unsere Familie gilt: Was wir an Geld haben, reicht für das, was wir uns leisten wollen, obwohl ich kaum etwas verdiene. Ist das Luxus? Ich empfinde unser Leben nicht als luxuriös in materiellem Sinn. In anderer Hinsicht schon. Ob die Kinder es nun wollen oder nicht: Unser Zuhause ist wie eine Basisstation, die immer besetzt ist. Trotzdem werden unsere Kinder mit zunehmendem Alter selbständiger und organisieren sich ohne meine Hilfe. Meine Präsenz wirkt wie Luxus – nice to have, aber nicht wirklich nötig. Ich bezweifle, dass dieser Zustand ebenso erstrebenswert ist wie Luxus im herkömmlichen Sinn. Vielleicht klang die Bemerkung deshalb so merkwürdig in meinem Ohr…

Einladung erwünscht – nur nicht zum Kaffeetrinken

Als ganze Familie werden wir nicht oft eingeladen, noch seltener zu einem Kaffeetrinken. Das ist einerseits schade, andererseits gut so: Kaffeetrinken ist für uns eine Herausforderung. Es sei denn, es findet draußen statt und ist eine offene Veranstaltung ohne Sitzzwang. Kaffeetrinken, damit verbinden wir: schlecht gelüftete Räume, viel zu viel Kuchen, schleppende Konversation oder alle reden durcheinander und dazu noch ständiges Geschirrgeklapper. Der Kaffee selbst kommt in dieser Negativliste gar nicht vor, der ist nicht das Problem.

Auch mancher Kuchen kann sehr lecker sein, das gebe ich zu. Es hat eher mit dem Drumherum zu tun. Ich habe nichts dagegen, nachmittags Menschen zu treffen und etwas mit ihnen zu TUN: spazieren gehen, eine Runde Skat, Doppelkopf oder Kniffel spielen, quatschen, einen Film schauen. Vieles ist möglich – eventuell sogar mit einer Tasse Kaffee. Nur die Veranstaltung „Kaffeetrinken“ als Hauptattraktion, die passt nicht so wirklich zu uns.

Mehr als ein Buch

Ich habe ein Buch verschenkt, das ich sehr lesenswert fand. Nein, falsch. Mir fällt kaum ein Buch ein, das mich derart bewegt hat. Eine Biographie: schonungslos ehrlich, nicht nach Mitleid heischend, erschütternd, ermutigend war sie und hat mich berührt, herausgefordert, beeindruckt. Derjenige, dem ich es geschenkt habe, fand es „ganz gut“. Seiner Meinung nach gefiel sich der Autobiograph zu sehr selbst.

„Wie bitte?“, denke ich, „ganz gut? Sprechen wir über dasselbe Buch?“ Er hat es anders verstanden als ich – und das enttäuscht mich sehr. Sofort tut mir der Autor leid. Dessen Ehrlichkeit wurde nicht wertgeschätzt, sondern sogar als Eitelkeit interpretiert. Kann es sein, dass ich es war, die etwas missverstanden hat?

Mein Verstand weiß: Es gibt immer Menschen, die etwas mögen, und andere, die dasselbe nicht mögen. Liest man Buchrezensionen, dann merkt man schnell, dass gerade Literatur Geschmacksache ist. Soll doch jeder lesen, was ihn anspricht.

Mein Herz wünscht ich es sich anders: Menschen, die mir etwas bedeuten, sollen bitte meine Begeisterung teilen können. Zumindest für solche Bücher oder wenigstens für dieses Buch – und für den Mut des ehrlichen Menschen, der es geschrieben hat. Dann fühlte auch ich mich von ihnen verstanden…

Anfangen – Routine haben – Aufhören?

Mit 18 habe ich den Führerschein gemacht, in den Jahren danach das Autofahren gelernt. Seit 30 Jahren fahre ich – anfangs weniger, dann mehr, heute ziemlich regelmäßig, aber nicht viel. Ich halte mich für eine gute Autofahrerin, besser als vor 30 Jahren, wahrscheinlich aber nicht mehr ganz so schnell in meinen Reaktionen. Weil ich auch oft Fahrrad fahre oder zu Fuß gehe, habe ich mehrere Perspektiven, wenn ich mit dem Auto unterwegs bin. Die schnellere Reaktionsgeschwindigkeit eines 20-Jährigen wird von meiner längeren Routine aufgewogen. Denke ich.

Dieser Status quo dauert schon einige Jahre und wird noch einige weitere anhalten. Bleibt es so bis zuletzt? Was ist in 30 Jahren? Noch mehr Erfahrung werde ich haben. Aber ich werde langsamer sein, nicht mehr so wendig – wahrscheinlich – an Leib und Geist.

Werde ich merken, wenn die Routine meine sinkende Reaktionsgeschwindigkeit nicht mehr aufwiegt? Wird es mir bewusst sein, wenn mehr Unsicherheit als Erfahrung im Spiel ist, sobald ich ins Auto steige? Gibt es ihn, diesen einen Moment, ab dem es besser wäre, ich ließe das Auto stehen?

Es gibt keine Pauschalantwort auf diese Fragen. Ich weiß: Unfallverursacher und Unfallopfer sind nicht immer dieselbe Person. In meiner Hand liegt nicht alles. Es ist vor allem Bewahrung, wenn ich heil wieder zu Hause ankomme.

Jahrzehntelang im Heute leben

„Ich habe mir online ein Hotelzimmer gebucht, das kann ich gut auch wieder stornieren“, sagt meine Freundin. Sie ist knapp 80 und mir in solchen Dingen echt ein Vorbild. Das Internet nutzt sie als Informationsbörse für kulturelle Veranstaltungen, Fahrkarten-Schalter oder zur Buchung von Hotelzimmern; durch ihr Smartphone bleibt sie mit ihren Enkeln in Kontakt.

Außerdem ist sie für mich ein Schatz an Lebenserfahrung: Meine Freundin hat die Nachkriegszeit erlebt, vier Kinder großgezogen, ist oft umgezogen und war 50 Jahre verheiratet. Auch als Witwe wirkt sie nicht einsam oder gar hilflos.

Manchmal treffen wir uns und reden. Ihre Vergangenheit ist länger als ihre Zukunft, im Heute ist sie zufrieden und verkörpert für mich eine gelungene Mischung aus Tradition und Moderne: Sie macht nicht alles mit, was es Neues gibt, und verwirft nicht alles, was sich bewährt hat. Ihre Auswahl trifft sie bewusst und wirkt dabei sowohl routiniert als auch neugierig, das gefällt mir.

Kunde oder Kollateralschaden

Vorab: Ich höre kein Radio. Vielleicht sollte ich „kaum“ sagen, denn meine Kinder tun es – und manchmal bin ich währenddessen mit ihnen zusammen. Kaum also. Es fehlt mir nicht. Ich höre auch keine andere Musik nebenbei – höchstens während ich bügele. Ansonsten höre ich Musik nur, wenn ich wirklich Musik hören will. Es ist für mich eine eigenständige Tätigkeit.

Wenn ich in einen Klamottenladen gehe, empfinde ich die meist erklingende Musik als herausfordernd. Sie raubt mir die Ruhe und nimmt mir die Lust, mich interessiert umzuschauen. Sie macht mich gleichzeitig müde und hibbelig. Das, was es mir schön machen soll im Laden, macht es mir unangenehm. Oft frage ich mich, ob es den Verkäufern nicht genauso geht und wer eigentlich entscheidet, dass in vielen Geschäften immer Musik laufen muss.

Für mich müssten sie nichts abspielen, für mich als Kundin – und bin ich nicht König? In meinem Fall steht die Musik meiner Bereitschaft im Weg, mich länger und gern in diesen Läden aufzuhalten und Geld gegen Ware zu tauschen. Entweder, es geht nicht um die Kunden, was komisch wäre. Oder aber ich bin der Ausnahmefall, eine der wenigen Personen, die nicht mehr und lieber einkauft, wenn sie dabei Musik hören kann. Mein persönlicher Unwille beim Shoppen ist dann vielleicht der Kollateralschaden, der in Kauf genommen wird, weil man es eben nicht jedem recht machen kann.

Es wäre doch interessant, wieviele Leute die Musik in Geschäften wirklich schätzen, gleichgültig über sich ergehen lassen, schlicht ertragen oder ebenso störend finden wie ich. Bei einer solchen Studie würde ich mitmachen. Es kann auch alles so bleiben, wie es ist – es würde mich nur interessieren, wie groß der eingeplante Kollateralschaden ist.

Geplant + nicht geschafft = schlecht?

Es gibt ein gewisses Standardprogramm in meinem Alltag. Wie jede Berufstätige habe auch ich einen Aufgaben-Kanon, den ich einfach abarbeiten muss. Darüber hinaus gibt es Ideen, Pläne und Vorhaben, die ich selbst dazu packe, die aber weniger dringlich sind. Diese werden bei mir häufig durchkreuzt beziehungsweise müssen sehr flexibel neu arrangiert werden: Es regnet den ganzen Tag und ich kann den Rasen nicht mähen. Oder die Hausaufgabenhilfe für meinen jüngsten Sohn ist dermaßen langwierig, dass ich für den ursprünglich geplanten Brief keine Muße mehr habe. Oder ich muss einfach früh ins Bett und habe für ein Telefonat oder die Bügelwäsche keine Kraft mehr. Oder es kann sein, dass ich einfach doch keine Lust habe, die Fenster zu putzen.

Das bewirkt, dass meine To-do-Liste ständig erneuert, abgestrichen und ergänzt wird. Manchmal steht mehr drauf, manchmal weniger, ganz leer ist sie nie. Und nur sehr selten erledigt sich eine Sache von selbst oder wird von einem anderen Heinzelmännchen abgearbeitet. Das bewirkt auch, dass ich bisweilen ganz ungeplant auf dem Sofa sitze und einen Asterix-Band vorlese und danach eine Partie Phase 10 spiele und es dann schon Zeit fürs Abendbrot ist … Obwohl ich doch die vielen Äpfel verarbeiten wollte, die da unterm Apfelbaum liegen und in zwei, drei Tagen nicht mehr so gut schmecken oder faulen oder von Insekten (halb) aufgefressen sein werden. Ich habe dann weniger „geschafft“, aber ist der Tag dadurch auch weniger wert? Natürlich ist das eine Buch (nach und vor vielen anderen vorgelesenen Büchern) nicht wirklich wichtig für mein Kind. Natürlich könnte er auch ohne das gemeinsame Spiel einen schönen Nachmittag haben. Ich will das gar nicht gewichten. Dafür wären dann ja mehr Äpfel zu apple crumble verarbeitet und weniger auf dem Kompost gelandet.

Ist mein Tag erfolgreicher, wenn ich viel schaffe von dem, was ich mir vornehme? In der Regel sind es ja doch auch Dinge, die getan werden sollten. Aber wer entscheidet, ob der pünktliche Geburtstagsbrief wichtiger, richtiger ist als der entrümpelte Keller oder die Laufrunde nur für mich? Wir machen immerzu etwas und lassen etwas anderes sein; und wir bewerten immerzu, dass das eine wichtiger ist als das andere. Das ist ja auch in Ordnung – solange wir nur für uns selbst bewerten und nicht für andere. Solange wir uns zumindest bewusst sind, dass unser eigenes Wertesystem eine sehr subjektive Geschichte ist.

Früher habe ich ALLE Äpfel, die zu Boden fielen, verarbeitet. Und Bücher vorgelesen und Geburtstagsbriefe pünktlich abgeschickt. Und ganz regelmäßig die Fenster geputzt. Heute erlaube ich mir (warum auch immer), Aufgaben nicht oder nicht sofort zu erledigen. Ich merke zweierlei: Zum einen – Fenster, Äpfel, Bücher (und manchmal sogar Kinder) können warten. Zum anderen – ich schaffe trotzdem noch eine ganze Menge.