Ein Eichenleben

In unserer Nachbarschaft gab es ein Grundstück mit Haus und viel Wald. Dieses Waldstück war eine Selbstverständlichkeit und wurde wenig beachtet. Vor einigen Jahren dann wurden aus dem einen Grundstück zwei gemacht, ein weiteres Haus gebaut und viel Wald gefällt: Alle Kiefern und sonstigen Nadelbäume mussten weichen, alle Eichen blieben stehen. Im Nachhinein war es schade um den Wald, aber die Eichen bekamen mehr Aufmerksamkeit: „Was für schöne alte Bäume.“ Eine dieser – nun solitär stehenden – Eichen fiel besonders auf: Sie hatte über die nächsten drei Jahre deutlich weniger Blätter (und diese deutlich heller grün) als die anderen verbliebenen Eichen. Das löste spekulative Gedanken aus: „Was die Eiche wohl hat? Ob sie sich nochmal erholt?“ Der neue Besitzer wartete drei Jahre ab, dann ließ er die Eiche fällen. Ein zwei Meter hoher Stamm blieb stehen. Dieser Stamm fiel mehr ins Auge als die anderen kompletten Eichen. Weitere spekulative Gedanken: „Was damit wohl passiert?“

Vor zwei Wochen ist ein Mann mit drei oder vier verschiedenen Motorsägen aufgetaucht und sägte, schliff und lärmte sich durch den Tag. Am Anfang sah ziemlich grob aus, was er machte. Im Laufe der Stunden wurden die Sägen kleiner und die Schnitte filigraner; nur der Lärm blieb derselbe und der Staub.

Leider habe ich nicht daran gedacht, ein Vorher-Foto zu machen. Jetzt gibt es nur noch das Nachher: Aus der Eiche ist eine Eule geworden. Spaziergänger bleiben stehen und bewundern die Eule und wie schön sie dahin passt. Eins ist klar: Posthum sorgt die Eiche (als Eule) für mehr Gesprächsstoff, als die Eiche es (als Eiche) in ihrem ganzen Leben je getan hat!

Fotoalben

Vor 27 Jahren war ich für ein halbes Jahr in Australien – arbeitend und reisend. So ähnlich wie „work and travel“. Die vergleichsweise wenigen Fotos, die es aus der Zeit gibt, habe ich ganz altmodisch in ein Album geklebt. Kürzlich habe ich dieses wieder angeschaut und mit Erstaunen festgestellt, dass mir die Fotos weniger bedeuten als noch vor zehn Jahren. Ich habe einen gewissen Abstand dazu – so wie ich einen gewissen Abstand zu meinem 21-jährigen Alter Ego habe. Es war eine tolle Zeit, ich habe sie genossen, sie hat mich verändert. Aber sie hat ein wenig ihren Wert verloren.

Ist das mit allen Erfahrungen so? Dass sie sich einreihen in die vielen Erfahrungen, die wir machen, und durch die Fülle im Leben ihren besonderen Wert verlieren? Ich weiß es nicht. Ich ahne nur, dass ein Moment oder auch eine Lebensphase uns am meisten bedeutet, während wir mitten drin stecken.

Mehr als ein Lied

Einige unserer Kinder haben durch die Pfadfinder das Lied „Country Roads“ von John Denver kennengelernt. Entsprechend häufig erschallt das Lied durch unser Haus – ohne und mit Klavierbegleitung. Und obwohl ich kein Country-Fan bin, mag ich dieses Lied. Es erinnert mich an meinen Cousin, der mochte das Lied auch – vor 30 Jahren jedenfalls. Holger war zehn Jahre älter als ich und ist vor acht Jahren gestorben. Er kam aus dem Westen, so dass unsere Beziehung bis zum Mauerfall einzig und allein von seiner Initiative abhing. Er hing offenbar sehr an mir und vor allem an meinen älteren Geschwistern, denn er war viele Wochenenden bei uns – und oft brachte er Freunde mit.

Was er aber auch mitbrachte war ein besonders Lebensgefühl, das sich auf mich übertrug, wenn er da war. Was er „ausatmete“ war eine Mischung aus Lockerheit, Freiheit und „nichts ist unmöglich“ – ohne jemals Toyota zu fahren. In seinen immer alten, aber geräumigen und gemütlichen Autos wurden Ausflüge zu etwas Besonderem, inklusive Musik. Hinsichtlich Fahrkomfort und Sound würden meine Kinder heutzutage wahrscheinlich müde lächeln. Aber vor über 30 Jahren fühlte sich das wie Freiheit an – in einem weich gepolsterten Wagen sitzen, „Country Roads“ hören, (textunsicher, aber enthusiastisch) mitsingen, Fenster runter und den Fahrtwind in den Haaren spüren. Mitten im Brandenburger Land, tief im Osten – wo übrigens auch die Sonne verstaubt, wenn auch vielleicht anders als in Bochum.

Höre ich heute dieses Lied, denke ich nicht nur an meinen Cousin, sondern auch dankbar daran, dass er mir damals ein Stück „Westen“ mit in den „Osten“ brachte – ganz ohne Geschenkpapier.

Nicht dasselbe

Unser Jüngster feiert seinen zehnten Geburtstag; er hat zehn oder elf Kinder eingeladen. Wir machen ein Geländespiel im Wald, es gibt vorher ein Eis, hinterher Minipizzen – und als letzter Punkt steht „freies Spiel im Garten“ auf dem Programm. Diese Art zu feiern passt zu uns und hat sich bewährt: Wir haben das auch schon so praktiziert, als unser Ältester zehn wurde.

Man könnte meinen, wir kennen uns aus. Man könnte auch meinen, es sei jedes Jahr dasselbe. Weit gefehlt! Es gibt – abgesehen von den Unwägbarkeiten des Wetters – immer wieder neue Befindlichkeiten, mit denen wir konfrontiert werden: „Ich mag kein Eis. Ich mag keine Salami auf der Pizza: Habt ihr auch was anderes? Ich kann nicht so schnell laufen, ich kann nicht so langsam laufen, wann werde ich abgeholt?“ Und so weiter und so fort.

Am eklatantesten aber ist der Unterschied, der durch die Zeit entsteht: Als der Älteste zehn wurde, hatten wir noch vier weitere Kinder im Alter von acht, sieben, fünf und zwei Jahren hier zu Hause. Vier weitere Kinder, die gern mitspielen wollten, die auch Hunger hatten, die – zum Teil zumindest – beaufsichtigt werden mussten. Beim Jüngsten sind zwei Kinder 16 und 17, halten sich vor allem im Hintergrund und erscheinen nur kurz zum Essen. Zwei andere Kinder sind 12 und 14, helfen beim Geländespiel und beteiligen sich aktiv beim „freien Fußball-Spiel im Garten“.

Es ist auch ein zehnter Geburtstag, wir feiern wie gehabt. Dennoch ist es nicht dasselbe, das fällt sogar dem Großen auf: „Mensch, Mama, als ich zehn geworden bin, da hattet ihr ja noch vier kleinere Kinder – das war sicher ein einziges Gewusel.“ Stimmt.

Gleich wieder vergessen

Kürzlich habe ich gelesen, dass einer meiner Lieblingsautoren ein neues Buch geschrieben hat. Es ist schon fertig, aber es wird erst im September erscheinen. Wer will, kann es schon heute vorbestellen. Neben einer diebischen Vorfreude auf das Buch selbst habe ich noch ganz andere Gedanken: „Häh? Wird an der Zahl der Vorbestellungen festgemacht, wieviele Exemplare gedruckt werden? Warum sollte ich mir jetzt schon eins sichern? Wenn ich das neue Buch bis September vergessen haben sollte, ist es mir nicht wichtig genug. Außerdem gibt es im Sommer sicher noch jede Menge Werbung und somit Erinnerung für mich.“

Heute macht die Ankündigung mich jedenfalls höchstens ungeduldig – sieben Monate warten. Ich hoffe, ich vergesse sie noch einmal für genau sieben Monate. Dann muss ich nur noch abwarten, bis aus dem Hardcover ein Taschenbuch wird…

Lust auf

Kleine Kinder machen, wozu sie Lust haben. Sie spielen – spontan und ziellos – und sie tun es tagelang. Eine Sache macht ihnen eine Weile Spaß, dann vielleicht nicht mehr und sie spielen etwas anderes.

Größere Kinder haben zwischen den Spielzeiten ein paar Pflichten und Aufgaben; aber sie können in nahezu jeder Pause ohne Probleme zurückfallen in den „Lust auf“-Modus.

Für mich als Erwachsene gibt es auch Dinge, zu denen ich Lust habe – laufen, lesen, spazieren gehen. Manchmal habe ich sogar Lust zu kochen oder aufzuräumen. Allerdings bin ich dabei selten spontan – ich plane ein, was mir Spaß macht – oder ziellos: Beim Kochen und Aufräumen ist ein Teil des Spaßes das Ergebnis.

Häufig habe ich Lust dazu, nichts tun zu müssen. Das lässt sich zwar nicht immer spontan in meine Tage einbauen, ist aber herrlich ziellos.

Ganz oder gar nicht

Mein Sohn hatte letztens Küchendienst und hat dabei Musik gehört. Nicht oft teile ich den Geschmack meiner Söhne auf diesem Gebiet, diesmal aber schon: Das Lied fiel unter die Kategorie „Gute Laune-Musik“. Interessanterweise hören wir Musik unterschiedlich: Mein Sohn braucht eine Geräuschkulisse beim Abwaschen, Tischdecken etc. – Musik als Hintergrund. Für mich ist Musik ungeeignet als Beigabe. Wenn ich sie mag, nimmt sie mich gefangen – Körper und Geist, daneben geht nicht viel anderes. Gefällt sie mir nicht, stört sie eher. Musik geht bei mir nur ganz oder gar nicht.

Fit, ziemlich fit, ganz fit?

Als ich studiert habe, mit Mitte 20, war ich fit und bin sehr regelmäßig zehn Kilometer in 50 Minuten gelaufen. Mit Mitte 30 benötigte ich (fürs Sportabzeichen) für drei Kilometer 12 Minuten, ohne auf die Zeit überhaupt zu achten. (Und hielt mich für ziemlich fit.) Vergangenes Jahr habe ich für dieselbe Distanz 15 Minuten gebraucht – und war hinterher fix und fertig. Heute würde ich sagen: „Für mein Alter“ bin ich noch ganz fit.

Ich kann meinen persönlichen Kräfteverfall diffus spüren, minutiös dokumentieren und verbal relativieren.

Da müssen wir ran: Erdkunde

Das Abendbrot ist fast schon beendet. Unser jüngster Sohn schreibt bald eine Sachkunde-Arbeit und lässt sich abfragen. Es geht um die Bundesländer Deutschlands und ihre Hauptstädte. Er kann alle benennen, nur bei Mainz zögert er ein wenig. Ich bin ganz erstaunt und sehr zufrieden. Im weiteren Gespräch kommen wir auf Erdkunde im allgemeinen – und unsere beiden Töchter offenbaren eklatante Schwächen: „Die Louvre fließt durch Paris“, hört man da; und nicht nur Isar, Lech, Iller und Inn, sondern auch die Ulm fließt rechts der Donau hin. Spätestens bei der Frage „Wann steigen die USA jetzt aus der EU aus?“, merken wir: Da müssen wir ran. Es hilft alles nichts, da müssen wir ran. Gleich als erstes haben wir – statt Gute-Nacht-Geschichte – Stadt, Land, Fluss gespielt…

Auch wenn es dramatisch und erschreckend ist: Ich habe lange nicht mehr so gelacht.

Zuhause – unvollständige Listen

Ein Bekannter von uns hat in seiner Küche ein Schild, auf dem steht: „Zuhause ist da, wo ich meinen Bauch nicht einziehen muss.“ Schön, habe ich gedacht, das ist schön. Nicht dass es bei uns in der Familie viele Bäuche gäbe, die eingezogen werden müssten, aber die Idee dahinter finde ich gut. Für uns wären andere Sätze treffender:
Zuhause ist da,
wo ich meine Muskeln spielen lassen kann
wo ich mit ungewaschenen Haaren frühstücken kann
wo jeder weinen darf, wenn ihm danach zumute ist, und so laut lachen, wie er will
wo Morgenmuffel sich nicht zusammenreißen müssen
wo ich mich freuen darf wie ein Kind, auch wenn ich schon lange keins mehr bin
wo ich nicht verurteilt werde, wenn ich ehrlich bin
wo ich unsicher sein kann, ohne belächelt zu werden
Letztlich heißt das „Zuhause ist da, wo ich sein darf“, und das ist großartig.

Aber etwas fehlt mir:
Zuhause ist da,
wo Menschen mich daran hindern, mich selbst aufzugeben
wo wir geprägt werden, ohne es zu merken
wo „intern“ bleibt, was „intern“ ist
wo wir mehr ermutigen als korrigieren und uns trotzdem manchmal kaum ertragen können
wo wir verstehen lernen, dass Stärken und Schwächen immer zusammen gehören
wo wir konkurrieren und alle Heimvorteil haben
wo wir Verlieren lernen können – wenn wir wollen
wo es wahrscheinlich genauso viele Grenzen wie Freiräume gibt – für Leib, Geist und Seele
Zuhause ist da, wo ich mich entwickeln darf.