Nebensächlich

Beim Laufen auf einem Feldweg begegnen mir zwei spazierende Hundebesitzer mit ihren Vierbeinern: Einer – ich kenne ihn nicht – kommt mir entgegen, der andere ist mir bekannt und geht vor mir her. Ich halte mich auf der Seite des mir bekannten Gespanns und nähere mich relativ zügig. Normalerweise registrieren mich die Hunde immer deutlich früher als ihre Herrchen; ich bin für die Tiere meist die willkommene Ablenkung beim ansonsten unspektakulären Gassigehen. Nach den Hunden reagieren die Halter und spannen die Leinen, um einer ungestümen Begegnung zwischen Jogger und Hund vorzubeugen.

Heute ist es anders: Ich werde überhaupt nicht beachtet! Beide Hunde haben nur Augen (und Nasen?) für einander, die Menschen sind offenbar ebenso konzentriert darauf, wie das Treffen ihrer Lieblinge ausgehen wird. Beim Vorbeilaufen bedanke ich mich reflexartig und sage „Hallo“. Alles völlig überflüssig: Ich bin hier und jetzt total nebensächlich.

Kein Dauerzustand

Große Trauer erschüttert uns, große Freude genauso. Und obwohl unerwartete Todesfälle oder die Geburt eines Kindes uns lebenslang prägen, besteht die große Herausforderung darin, uns von derart emotionsgeladenen Ereignissen nicht definieren zu lassen. Weder große Trauer noch überwältigende Freude haben langfristig die Herrschaft über unsere Persönlichkeit – auch wenn die mit ihnen verbundenen Gefühle uns nie ganz verlassen werden. Menschen, die tiefes Leid erfahren, dürfen darin nicht verharren – sonst verzweifeln sie und werden bitter. Und auch große Glücksgefühle verlieren mit der Zeit ihren Zauber und werden überlagert von mehr oder weniger banalen Erfahrungen: Das Leben spielt sich ab in den Niederungen des ganz gewöhnlichen Alltags. Wie wir dort gleichermaßen ernsthaft und lebensfroh bleiben können – darin zeigt sich, wer wir sind.

Reisevorbereitungen als Lebensschule

Um mich für meine England-Reise im Herbst zu rüsten, lese ich das Buch „Watching the English“ von Kate Fox. Es löst in mir Erheiterung aus, Erstaunen und ist so umfassend geschrieben, dass ich WEISS: Ich werde die unausgesprochenen Regeln des (verbalen) britischen Umgangs auf jeden Fall brechen. Und – die Briten werden höflich genug sein, mich das nicht spüren zu lassen.

Was ich aber über junge Männer an einer Stelle lese, lässt mich innehalten und eine gedankliche Schleife drehen. Es geht um männliche Heranwachsende, die sich normalerweise in Kneipen oder auf Parties laut und leicht aggressiv verhalten, die vielleicht sogar eine gewisse kriminelle Energie mit sich bringen – oder nur zu viel Testosteron. Gehen diese jungen Männer zu einem Pferderennen, benehmen sie sich anders. Kate Fox schreibt über sie (frei übersetzt): „Ihr relativ zivilisiertes Benehmen beim Pferderennen setzt alle landläufigen Überzeugungen zur Ursache von Chaos und Gewalt außer Kraft und beweist, dass es für Horden junger Männer durchaus möglich ist, sich zu versammeln, zu spielen und große Mengen Alkohol zu trinken – und das alles bei einem großen Sportereignis -, ohne sich zu schlagen oder in anderer Weise für Ärger zu sorgen. Sie mögen laut sein und demonstrativ auftreten, aber sie sind nicht aggressiv, sondern bemerkenswert wohlerzogen: Sie halten Frauen die Türen auf, sagen ´Danke` und ´Bitte`, und wenn sie betrunken in dich hineintorkeln, entschuldigen sie sich.“ Und später schlussfolgert sie, woran das liegen könnte: „Wenn junge Männer wie verantwortlich handelnde Menschen behandelt werden, verhalten sie sich als solche. Behandelt man sie als Kinder oder als nicht zurechnungsfähige, wilde und verantwortungslose Biester – verhalten sie sich entsprechend.“

Mir kamen sofort meine größeren Kinder in den Sinn, die sich herantasten ans Erwachsensein. Was traue oder mute ich ihnen zu, inwieweit vertraue ich ihnen? Ich möchte ihr Rumprobieren mit dem Großwerden gern unterstützen und aushalten und bin unsicher, welche Rolle ich dabei spiele. Ich frage mich: Wie hilfreich sind ab einem gewissen Alter Kontrolle und Detailfragen? Müssen wir wirklich über alles reden, nur weil sie ihre Füße noch unter unseren Tisch stellen? Andererseits aber auch: Inwieweit halten sie die Konsequenzen ihres Handelns aus? Der Übergang hin vom Kind zum erwachsenen Gegenüber fällt mir nicht in den Schoß; ich bin darin nicht so gut. Ich finde beides schwierig, das Loslassen und das konsequente „In-die-Pflicht-Nehmen“. Ich probiere noch herum – genau wie meine Kinder…

Schwarzfahren?

Ich bin mit der Bahn unterwegs. Weil ich Geld sparen möchte, wähle ich Zugbindung. Verspätung lässt mich meinen ersten Anschlusszug verpassen. Ich muss improvisieren und von der ICE-Verbindung auf eine Regionalbahn umsteigen. Auch der nächste Anschlusszug ist dadurch unerreichbar. Für die letzten Kilometer meiner Reise entscheide ich mich für eine Vorortbahn, die mich meinem Ursprungsziel sehr nahebringt, aber gar nicht dort hält – es ist für meine Freundin egal, an welchem Dorfbahnhof sie mich abholt.

Während ich im letzten Zug sitze, frage ich mich, ob mein Ticket hier überhaupt gilt. Meine Befürchtungen, gegen die Regeln zu verstoßen, lassen sich nur schwer unterdrücken. Zu allem Überfluss befindet sich direkt gegenüber meines Sitzes ein Schild, auf dem steht: „Hier drücken wir kein Auge zu. Fahren ohne gültige Fahrkarte kostet Sie mindestens 60 Euro.“ Mit dem Spruch vor Augen warte ich unentspannt die 15 Minuten ab, die die Fahrt dauert – und hoffe, dass kein Schaffner kommt. Erleichterung durchströmt mich, als die Durchsage für meinen Halt ertönt. Ich gehe zur Tür. Dort steht: „Wir hoffen, Sie hatten eine nette Fahrt mit uns.“ Etwas gequält muss ich lächeln.

Woher in mir rührt dieses tiefsitzende Bedürfnis, mich korrekt zu verhalten? Bin ich in solchen Fragen sehr deutsch – oder sehr ostdeutsch? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mit einem latenten Schuldgefühl im Zug saß: „Es muss mir die 60 Euro wert sein, zur Not bezahle ich sie.“ Ich hätte nicht diskutiert, ich hätte alles zugegeben – obwohl ich ebenso tiefsitzend wusste, dass mein Handeln kein klassisches Schwarzfahren war. Trotzdem: Tief in mir drin spüre ich in solchen Fällen eine starke Grenze zwischen „richtig“ und „falsch“. Seltener kommt – für mich selbst – ein großzügiges „auch in Ordnung“ zum Einsatz. Das verbrauche ich stattdessen freigebig für andere.

Aufgeregt

Vor mir liegt ein beruflicher Termin, bei dem ich überhaupt nicht weiß, was mich erwartet. Ich bin aufgeregt – angespannt und unsicher.

Im Herbst möchte ich allein verreisen, in ein fremdes Land und eine mir unbekannte Gegend. Ich bin aufgeregt – gespannt und neugierig.

In beiden Fällen grummelt mein Bauch, mein Herz schlägt fühlbar, ich bin nervös; in beiden Fällen beruhigen rationale Überlegungen nur bedingt. Beide Ereignisse fordern mich heraus und bringen mich weiter.

Und dennoch sind die Gefühle rund um die Aufregung ganz unterschiedlich.

Sommerurlaub

Meine Idee von Sommerurlaub ist eine ganz bestimmte. Warme bis heiße Tage, strahlend blauer Himmel, laue Abende – Draußenwetter für Warmduscher. Besonders wenn ich ins Wasser gehe, brauche ich es heiß: Zu schwierig ist es für mich, nach einer Meerwasser-Abkühlung wieder warm zu werden, wenn das Thermometer 24 Grad zeigt und ein leichter Wind weht.

Dieses Jahr sind wir auf einer Nordsee-Insel. Es ist schön und gut, aber nicht warm, geschweige denn heiß: Die Temperaturen bleiben in stetiger Zuverlässigkeit unter 20 Grad. Das ist – für meine Vorstellungen – nicht sommerlich, sondern fühlt sich durch den dauerhaft wehenden Wind eher herbstlich an. Normalerweise entspricht das Wetter also nicht meinen Erwartungen. Die Lösung? „Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur schlechte Kleidung“ mag stimmen, entlockt mir aber nur ein unwirsches Augenverdrehen. Also ziehe ich an, was ich in weiser Voraussicht an dickeren Klamotten mitgebracht habe, und gehe mit dem oder gegen den Wind am Meer spazieren.

In die Nordsee werde ich mich vielleicht zusammen mit ein paar verrückten Kindern stürzen – ganz kurz. Oder gar nicht. Was ich nicht tun werde: Am Strand sitzen, Strandmuschel aufbauen, Badeanzug unter die Fleece-Jacke ziehen, Handtuch bereithalten und auf das Wolkenloch warten. Meine Hoffnung auf diese Art Sommerurlaub stirbt nicht zuletzt, sie ist bereits begraben. Nur so kann ich genießen, was sich uns in Sachen Wetter bietet. Und ich freue mich ehrlich – dass es nicht regnet, dass der Wind mittlerweile schon deutlich weniger geworden ist, dass es ein Volleyballfeld in der Nähe gibt, dass die Kinder sich so gut verstehen…

Volleyball

Zwei Generationen spielen Volleyball. Wir – das sind die um die 50-Jährigen – können gut mithalten mit den 13- bis 22-Jährigen und machen auf dem Feld eine gute Figur. Alle haben wir unseren Spaß – Sport verbindet.

Nach zwei Tagen stehen auf der Haben-Seite der Alten: zwei verstauchte Finger, Meniskus-Probleme, eine Zerrung und ein mindestens überdehntes Band im Sprunggelenk. Die jüngere Generation hat am dritten Tag noch immer ihren Spaß, die Begeisterung ist ungetrübt, sie machen nimmermüde weiter. Wir Älteren sind raus und pflegen unsere Blessuren. Sport trennt?

Vereinbarkeit?

Vor kurzem sprach ich mit einer jungen Frau, Mutter von zwei Kindern, der es schwerfällt, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Sie arbeitet sehr gern, ist aber auch sehr gern Mutter. Bei der Arbeit fehlt sie nicht oft und macht ihren Job gut. Dennoch fühlt sie sich unzulänglich. Einige Kollegen vermitteln ihr, dass sie nicht engagiert genug ist und zu wenig für den Job brennt. Es kränkt sie, denn sie tut, was sie kann, möchte aber auch für ihre Kinder präsent sein.

Ich kann nicht mitreden, ich habe keinen Job. Aber ich bin überzeugt: In der Regel sind die Kinder einer Mutter wichtiger als ihr Beruf. Was nicht heißt, dass Mütter nicht auch arbeiten wollen und dürfen. Wir haben sogar ein Wort dafür: Vereinbarkeit. Vereinbarkeit heißt Kompromiss. Kompromiss heißt Flexibilität – auf beiden Seiten. Weder Muttersein noch Berufstätigkeit kann man ausknipsen. Eine Mutter, die arbeitet, lässt sich darauf ein, auf „zwei Hochzeiten zu tanzen“. Das ist schwer genug, und meine Bewunderung gehört denjenigen, die beide Bereiche gut unter einen Hut bekommen.

Ich habe allerdings den Eindruck, unter Vereinbarkeit wird heutzutage weniger Kompromiss als vielmehr „ganz oder gar nicht“ verstanden. Abwechselnd ganz Mutter und ganz berufstätig. Ich glaube, das funktioniert nur in der Theorie. Ich kann verstehen, dass Arbeitskollegen nicht den Kram übernehmen wollen, der von Müttern liegengelassen wird, die bei der Arbeit weniger als alles geben. Und ebenso kann ich Mütter verstehen, die sich mehr Verständnis von ihren Arbeitskollegen wünschen, wenn ihnen die Arbeit nicht das Wichtigste ist.

Der gesellschaftliche Druck (für junge Mütter) ist sehr hoch: Gib deine Kinder in Betreuungseinrichtungen, geh arbeiten und gut. Und, wenn nicht gut, sieh zu, wie du klar kommst. Die Lösung ist nicht, Müttern die Kinder abzunehmen und das gleiche Engagement zu erwarten wie von Männern, deren Frauen zu Hause den Laden schmeißen. Die Lösung heißt nicht Vereinbarkeit, sondern Verständnis und guter Wille – auf beiden Seiten.

Vollpension

Mit zwei wachsenden männlichen Teenagern im Hotel – Vollpension wird neu definiert: „Die erhöhen die Preise, wenn wir wieder weg sind!“

Sport (2)

Ich laufe entspannt, diesmal ohne Teenager. Auf dem Rückweg überholt mich ein sehr freundlicher junger Mensch auf dem Fahrrad. Er lächelt mich an und schaut dann zu Boden: Dort entdecke ich einen klitzekleinen Rauhaardackel, der an mir vorbei wuselt. Seine Ohren flattern im Wind. Er sieht aus, als wäre er dauerhaft im Vollsprint – und als würde ihm der Gegenwind nichts ausmachen. Wieder sehe ich einen Mit-Läufer nur von hinten, aber: Den Rest der Strecke bekomme ich trotz der Anstrengung das Lächeln nicht mehr aus meinem Gesicht…