Schade

„Man hält mich für religiös“, schreibt eine Satirikerin, „wer mich kennt, fragt sich, wie das nur passieren konnte.“ Es soll lustig sein, glaube ich. Der Rest der Kolumne hat einen scherzhaften Ton, der deutlich macht, wie lächerlich es ist, heute noch in die Kirche zu gehen. Mir tut das weh; meiner Meinung nach gibt es Grenzen für Lächerlichkeit. Der christliche Glaube hat hierzulande einen schlechten Ruf, aber nichts anderes hat uns so geprägt: unser Land, unser Volk, unsere Kultur. Wer sich auf keine Werte mehr einigen kann, verliert Orientierung und Halt – und hat auch keine Basis mehr für einen kritischen Diskurs. Abgesehen davon bin ich so dankbar, dass ich glauben kann:

Ich bin geliebt, gewollt und angenommen.
Keiner meiner Fehler ist so groß, dass Jesus ihn mir nicht vergeben könnte.
Mein Vater im Himmel hat einen guten Plan für mein Leben.

Es schmerzt mich, wenn sich so leichtfertig lustig gemacht wird über etwas, das mir so viel bedeutet und so viel Kraft hat. Angesichts derjenigen, die sich lustig macht, finde ich es vor allem sehr schade: Sie weiß gar nicht, worauf sie da so leichtfertig keinen Wert legt!

Ermutigend

Der junge Mann hinter mir in der Schlange hat nur ein Teil in der Hand: „Sie können gern vor“, biete ich ihm an. Er bedankt sich und legt seinen Lachs zwischen meine und die Einkäufe meines Vordermannes. Sein Rucksack und seine Hose sehen so aus, als hätte er keine Schutzbleche an seinem Rad. Dass ihn der Regen ja mächtig erwischt habe, sage ich deshalb. „Das ist das Ziel, bei dem Wetter macht eine Tour erst so richtig Spaß“, antwortet er lächelnd. 

Als ich nach draußen komme, steht der junge Mann neben seinem fast ebenso verdreckten Fahrrad; ich frage ihn nach `seiner Tour´. Es sei einfach ein guter Ausgleich, mit dem Rad quer durchs Gelände zu fahren, sagt er, nie unter 50 Kilometer. Mir gefällt sein Hobby besser, als vor irgendwelchen Geräten zu hocken – ihm offenbar auch: „Ich bin meinen Eltern auch dankbar dafür, wie sie mich diesbezüglich erzogen haben; ich durfte mir erst mit 16 ein Handy kaufen.“ Genau wie bei uns, denke ich und weiß: Gegenüber Zufallsbekanntschaften würden sich unsere Kinder ebenso positiv wie er über die digitale Zurückhaltung ihrer Eltern äußern.

Nett und mehr

Beim Spaziergang sehe ich immer wieder dieselben Leute, unter anderem eine Gruppe von Frauen mit ihren Hunden. Man grüßt sich freundlich und höflich – mehr nicht. Heute war eine von ihnen allein unterwegs, ungefähr mein Alter, zwei Hunde. Als ich sie ansprach, guckte sie ein bisschen verhalten, als würde sie denken: Was will die jetzt von mir? „Ich finde, dass Sie einen ganz tollen Kleidungsstil haben“, sagte ich. Sofort verschwand die Skepsis und machte Platz für ein überraschtes breites Lächeln: „Oh, das ist aber nett, danke.“ Wir sprachen kurz weiter – über Problemzonen und altersangemessene Kleidung (und wo man die bekommt).

Bisher waren wir uns fremd: eine mit und eine ohne Hund, man grüßt sich – mehr nicht. Beim nächsten Treffen sind wir zwei Frauen mit einigen Gemeinsamkeiten. Und das alles nur, weil eine von uns der anderen etwas Nettes gesagt hat.

Hauptsache zu Fuß?

Da läuft ein Influencer von Berlin nach New York. Warum? Weil er Jugendliche motivieren möchte, Sport zu machen. Natürlich begleitet ihn ein Kamerateam – sonst wird das ja auch schwer mit dem Motivieren, weil keiner merkt, was er macht. Spontan frage ich mich, wie das (ganz praktisch) gehen soll: Zwischen Berlin und New York liegt der Atlantik; andersherum zu laufen und durch die vergleichsweise enge Beringstraße zu schwimmen, das traue ich ihm nicht zu. Und tatsächlich, erzählt mir mein Sohn, sei er inzwischen schon 700 Kilometer bis Frankreich gelaufen: also Richtung Westen. Zwischendurch wird er dementsprechend ein Stückchen fliegen, lese ich später – und zwar die 5.200 Kilometer von Porto in Portugal bis Boston in Amerika. Zu Fuß bleiben dann eben die restlichen 3.000 Kilometer bis Porto und ab Boston, was natürlich auch noch ganz schön weit ist.

Ich habe keine Ahnung, ob der junge Mann einen Zeitplan hat und diese Aktion jetzt sozusagen hauptberuflich betreibt. Dann wäre er angewiesen darauf, möglichst viele Likes für seinen Lauf zu bekommen – ich glaube zumindest, dass das so funktioniert. Bisher sieht es gut aus für ihn: Die Reaktionen im Netz sind rundum positiv. Finde nur ich das mit dem Fliegen irgendwie unpassend? Ich wundere mich, denn momentan redet schließlich jeder, der was auf sich hält, davon, dass wir möglichst wenig fliegen sollten. Insofern hätte der Mensch mit Einfluss sich doch auch eine andere Strecke aussuchen können. Es lassen sich innerhalb Europas auch ohne Flugzeug ganz ordentliche Strecken zurücklegen: Bis Lissabon sind es von Berlin aus 2.600 Kilometer, ebenso weit ist es bis an die Spitze von Norwegen oder nach Antalya in der Türkei. Alles wäre nur zu Fuß machbar und also deutlich nachhaltiger – allerdings ohne Manhattan Skyline nicht ganz so medienwirksam.

Pubertät? Vollkommen überschätzt!

Vor allem unsere vier älteren Kinder sind dicht hintereinander geboren, so dass Menschen in unserem Umfeld vor Jahren schon Mitleid mit uns hatten: „Ihr Armen! Ihr habt irgendwann mal zwei, drei oder vier Kinder gleichzeitig in der Pubertät.“ Es klang ein bisschen nach: „Zieht euch warm an.“

Auch in Zeitschriften und Büchern ist Pubertät ein beliebtes Thema: was für eine schwierige Phase das ist; Kinder die wochenlang ihr Zimmer nicht verlassen, sich nicht abmelden, respektlos mit ihren Eltern reden, ihre Stimmungsschwankungen rücksichtslos ausleben … Auf der anderen Seite stehen die Eltern: Sie halten aus und ertragen und genießen die wenigen Momente, in denen sie – dem vielleicht kränkelnden Teenager – Tee kochen können. All das hörte sich an, als müssten (und würden) Eltern kapitulieren vor der Urgewalt der Pubertät.

Seit unsere Kinder so alt waren (und sind), frage ich mich, ob übertrieben ist, was ich lese, und ob die Bedenken anderer Eltern auf realen Erfahrungen beruhen. Auch in den Gehirnen unserer Kinder wurde und wird einiges umsortiert. Aus `vor allem Sohn bzw. Tochter´ wird `vor allem Freund unter Freunden´. Sie müssen sich von uns abgrenzen und wollen erwachsen sein; entsprechend ändert sich das gewohnte Miteinander zu Hause. Das ist alles in Ordnung. Aber für Respektlosigkeit war und ist kein Platz bei uns – in beide Richtungen. Nicht nur Eltern, auch Heranwachsende müssen sich manchmal zusammenreißen und (wenn nötig) entschuldigen. Inzwischen denke ich immer wieder: Was für tolle Kinder wir haben; wie schön, dass sie sich selbstbewusst ihren eigenen Weg suchen! Sie waren oder sind pubertär und das ist manchmal anstrengend – aber mit fünf Kleinkindern wäre ich momentan vollkommen überfordert.

Was man so mitbringen kann …

Zwei meiner Kinder fliegen Ende des Monats nach Sambia. Im Vorfeld wurden sie gefragt, ob sie ein paar Dinge mitbringen könnten, die man dort nicht oder nur für sehr viel Geld kaufen kann. Gern machen sie das. Die Auswahl der Wünsche ist vielfältig: Zartbitterkonvertüre ist dabei und gewöhnliche H-Schlagsahne, zwei karierte Mathe-Hefte (`weil ich nicht weiß, wo ich die bekommen kann – hier ist alles liniert´), Kaffee-Filtertüten, Salzstangen, Pfefferminztee und ein paar ausgedruckte Fotos …

Zwei Drittel davon habe ich im Haus, auf Vorrat. Die anderen Dinge bekomme ich hier in Deutschland in JEDEM Supermarkt. Besonders beschämt mich der Wunsch nach karierten Mathe-Heften. „Es können gern auch angefangene sein“, hieß es. Ausrangierte Turnschuhe wird mein Sohn auch mitnehmen; er weiß, dass die dort hoch im Kurs stehen. „Mit welchen Schuhen dort Fußball gespielt wird, das könnt ihr euch nicht vorstellen“, hatte er letztes Jahr erzählt, als er von seinem Auslandseinsatz wiederkam.

Wir kaufen also ein paar Dinge und holen andere aus dem Keller. Was bei uns `rumliegt´, ist für Menschen in Sambia mehr als ein Mitbringsel.

Friedemann und die Missverständnisse

„Was würde Friedemann dazu sagen?“, fragt mich mein Mann – und unwillkürlich müssen wir beide lächeln. Kommunikation ist schon lange und immer wieder Thema bei uns: Der eine sagt was, warum und wie, der andere hört was, warum und wie – und beides hat bisweilen kaum etwas miteinander zu tun. Wieso ist das so schwierig und, viel wichtiger. wie lässt sich das ändern? Vor kurzem hörte mein Mann (dienstlich) einen Vortrag von Friedemann Schulz von Thun; einiges war ihm schon bekannt. „Das hätte dich auch interessiert“, sagt er hinterher zu mir und meint: gutgetan.

Friedemann Schulz von Thun ist Kommunikations-Experte; von ihm stammt das Modell mit den vier Schnäbeln und den vier Ohren. Wir informieren, offenbaren uns, vermitteln Gefühle und Erwartungen – grob gesagt. Und wir hören ebenso. Die Krux ist, dass jeder anders tickt, anders geprägt ist und entsprechend konditioniert. Bestes Beispiel: „Die Ampel ist rot“, sagt der Beifahrer und kann sich dadurch als aufmerksamer Mitfahrer offenbaren, vielleicht auch als ängstlicher oder als bevormundender … Einige der möglichen Reaktionen sind: `Das hatte ich noch gar nicht gesehen, danke´ oder `Das sehe ich auch, lass mich in Ruhe´ oder `Oh, ich muss bremsen … oh, der andere will, dass ich bremse …´. Je nachdem, was genau und wie der Fahrer versteht, antwortet er – und sendet seinerseits eine Botschaft, die alles Mögliche an (nicht nur gedanklichen) Reaktionen in Gang setzt. Die Kunst ist es, transparent zu reden und zu hören; möglicherweise muss man dazu nachfragen. Missverständnisse haben es dann deutlich schwerer.

Bei uns geht es nie um Ampeln; wir lassen einander fahren und sitzen vergnügt (und still!) daneben. „Wir müssen noch dies oder das tun, uns hier oder dort melden, den Urlaub buchen etc.“ dagegen kommt ab und zu vor und löst eine Menge an Fragen aus: Wir? Wer genau? Wieso denkst du, dass ich dazu mehr Lust habe als du? Möchtest du, dass ich es tue? Warum sagst du das dann nicht? Und die erste Antwort beziehungsweise Gegenfrage, die inzwischen automatisch kommt, lautet: „Friedemann?“ Das bedeutet so viel wie: `Jetzt mal Butter bei die Fische.´ Im Ergebnis lächeln wir beide – und das hilft auch schon super gegen Missverständnisse.

Australisches Brot?

Eine Familie, die ich letztes Jahr in Australien besuchte, backte ihr eigenes Brot, mit Sauerteig und Körnern – dem, was wir in Deutschland gewohnt sind, sehr ähnlich. In Australien aß ich allerdings meistens Porridge und nur sehr selten Brot. Trotzdem brachte ich mir das Rezept mit, war aber skeptisch, ob ich dem `it´s very easy´ meines Freundes Bruce glauben konnte. Meine bisherige Erfahrung mit Sauerteigrezepten lief eher unter: erfordert Übung und kann leicht schiefgehen.

Seit fast zehn Monaten bin ich wieder hier und backe selbst Brot, mindestens eins pro Woche. Bruce hat recht: Das Rezept ist einfach; das Brot gelingt jedes Mal und schmeckt; mein Brot-Back-Selbstbewusstsein ist erheblich gestiegen.

Seit 2014 gehört deutsche Brotkultur für die UNESCO zum immateriellen Kulturerbe – weil wir so viele und so tolle Brotsorten haben wie kein Land sonst auf der Welt. Bei Australien dagegen fällt einem eher Vegemite ein oder Meat Pie und, wenn schon Brot, dann ist das eher hell, luftig und nährstoffarm. Mein Haupt-Mitbringsel ist daher eine paradoxe Inspiration: Ich backe deutsches Brot nach `australischem´ Rezept!

Wir kennen uns (nicht)!

Auf dem Weg durch unsere Nachbarschaft begegnete mir vor ein paar Wochen eine Frau. Wir grüßten uns, weil man sich in der Nachbarschaft eben grüßt, dachte ich. Bis dato war sie mir nie als `hier um die Ecke´ ansässig aufgefallen. Die Frau erzählte ganz vertraut von ihrer Tochter – gerade so, als würde sie mich kennen. Ich dagegen konnte sie überhaupt nicht zuordnen und dachte: `Vielleicht ist es die Mutter irgendeines Mitschülers irgendeines unserer Kinder.´ So etwas passiert mir manchmal: Ich habe kein gutes Personengedächtnis und kann Menschen außerhalb des gewohnten Kontextes (in diesem Fall: vielleicht Elternabend?) schlecht zuordnen.

Heute saß dieselbe Frau aufgrund eines Stadtteilflohmarktes vor ihrem Haus. „Gerade habe ich zu Tina gesagt: `Dagmar war auch schon hier´“, ruft sie mir bei meinem zweiten Vorbeigehen zu. Welche Tina …?, frage ich mich, lasse mir meine Sprachlosigkeit nicht anmerken, lächle und nicke freundlich. Sie kennt nicht nur mein Gesicht, sondern auch meinen Namen – und wahrscheinlich noch viel mehr. Ich kenne nur ihr Gesicht (und auch das erst neuerdings) und bin gespannt, wohin sich unsere Bekanntschaft noch so entwickelt.

Nur das nicht!

„Ich möchte nicht nur mit den Kindern zu Hause bleiben …“, sagt eine junge, (noch) kinderlose Frau zu mir. Sie weiß, dass ich lange nicht berufstätig war; in der Vergangenheit sprach sie immer positiv von dem, was ich `geleistet habe´. Wahrscheinlich war das ernst gemeint und dennoch wirkt sie jetzt fast entrüstet: Nur mit den Kindern zu Hause bleiben, das klingt nach sehr wenig und kann einem nicht reichen – ihr jedenfalls nicht.

Eventuell gehört sie zu den Frauen, die gern berufstätig sind und (oder: weil sie) ihren Traumjob gefunden haben. Vielleicht geht es ihr auch darum, selbst Geld zu verdienen für all das, was man heute so braucht. Alles ist in Ordnung – bis auf das Wörtchen `nur´, es stört mich. Ich würde niemandem sagen: `Eh, du gehst nur ins Büro, arbeitest nur bei der Müllabfuhr, bist nur Lehrer für Kunst …´

Nur macht aus mit den Kindern zu Hause eine Tätigkeit, die auf keinen Fall gleichwertig ist zu anderen Jobs. Unabhängig davon, ob und wofür das Geld am Ende des Monats reicht oder nicht, was (nebenbei gesagt) vollkommene Privatsache ist: Sich ohne Entgelt um den eigenen Haushalt und Kinder zu kümmern (ob als Vater oder Mutter) hat keinen Wert an sich. Es sei denn, man bemüht sich um Haushalt und Kinder anderer Menschen und bekommt dafür Geld. Das eine ist offenbar Arbeit und das andere nicht – ich verstehe nur nicht, wieso.