Unverändert

Aus einer Laune heraus krame ich alte Zeugnisse hervor. Die Noten verbesserten sich im Laufe der Schulzeit; die Beurteilungen blieben vom Tenor her gleich, zum Beispiel:

„ … ist eine sehr lebhafte Schülerin …“,
„ … muss unbedingt ordentlicher werden …“,
„ … versucht, ihr impulsives Verhalten, bewusst unter Kontrolle zu bringen …“,
„ … muss sich um größere Konzentration bei der Arbeit bemühen …“,
„ … neigt dazu, ungeduldig zu werden, wenn andere ihre Meinung darlegen …“,
„ … sollte sich darin üben, bedächtiger zu arbeiten …“

Als ich meinem Mann diese alten Einträge von `vor seiner Zeit´ vorlese, nickt er schmunzelnd: Das Kind von damals ist in der Frau von heute noch immer erkennbar.

Offenbar kann man nur wenig aus seiner Haut; grundsätzliche Anlagen im Temperament lassen sich durch den Verstand höchstens kanalisieren, aber nicht eliminieren. Gut wenn die einzigartige Mischung unserer Charaktereigenschaften – trotz aller Vernunft – immer noch durchscheint. Sie sagt mehr über uns aus als Noten allein.

Zeugnisnoten

Die Zeugnisse meiner Kinder sind immer Anlass zur Freude – und trotzdem relativ unwichtig für mich. Auch ohne Zensuren kenne ich das Vermögen und Bemühen meiner Kinder und ahne, wozu sie in der Lage sind: Ich kenne die Zeit, die in Vokabeln geflossen ist oder in das mathematische Problem, das man nur durch Übung in den Kopf bekommt. Auch weiß ich von so mancher knappen Note in einer Klassenarbeit, von der (vergleichsweise) ungerechten mündlichen Bewertung oder der Ratlosigkeit in einem Fach wie Chemie. Letztlich sind mir auch die vielen Dinge nicht verborgen, die außer Schule noch laufen: Das Engagement für Musik, Sport, Freunde und das daraus folgende immense Bedürfnis nach Entspannung. Manches spiegelt sich in den Noten wider, manches nicht – sowohl zugunsten der Kinder als auch zu ihren Ungunsten.

Irgendwann wird jedes meiner Kind ein Abschlusszeugnis erhalten und sich damit präsentieren oder bewerben müssen. Wer meine Kinder nicht kennt, muss sich an diesem Zeugnis orientieren – für ihn ist es relativ wichtig. Er wird sehr wahrscheinlich immer ein bisschen falsch liegen mit seiner Einschätzung des Menschen, der sich dahinter verbirgt. Es ist klar: Ich wünsche meinen Kindern ein gutes Abschlusszeugnis. Aber noch mehr wünsche ich ihnen Menschen, die über die Noten hinaus Interesse an ihnen haben.