Nicht mehr `im Westen´

Ich bin im Osten aufgewachsen; eine meiner Tanten lebte in der Nähe von Braunschweig. Das hieß: räumlich, aber vor allem ideologisch `im Westen´ – unerreichbar und fremd, immer verbunden mit einer gewissen Sehnsucht. Heute liegt Braunschweig in erreichbarer Entfernung; ich fahre aber fast nie hin. Die Stadt ist mir ebenso fremd wie früher, ihr Name klingt für mich noch immer ein wenig nach dem Zauber des Westens.

Seit kurzem studiert mein Sohn in Braunschweig; für ihn ist es eine Stadt wie jede andere in Deutschland. Sie ist nicht unerreichbar oder fremd und auf keinen Fall `im Westen´ – weder räumlich noch ideologisch. Vielleicht werde ich jetzt ab und an mal dort sein und die Stadt ein bisschen kennenlernen; der Zauber wird verfliegen. Die gewisse Sehnsucht nach der fremden Stadt `im Westen´ wird der Realität weichen: Braunschweig liegt mittendrin in Deutschland, von Celle aus gesehen im Süd-Osten.

Wahrheit Weißensee?

Ich komme aus dem Osten – und meine damit die ehemalige DDR.  Als ich letztens beim Einkaufen diese Bemerkung fallen ließ, reagierte eine Mitkundin sofort: „Oh, ich schaue ja gerade `Weißensee´, das muss ja schwierig gewesen sein. Wem konnte man denn da vertrauen? Ich hätte das ja nicht ausgehalten.“

Interessant. Sicherlich war auch meine Familie bei der Stasi registriert; denn wir „hatten Westkontakte“, und das hat ja im Grunde schon gereicht, um dem Staatsapparat suspekt zu sein. Aber was ich meiner Ost-Vergangenheit eher zu verdanken habe als allgegenwärtiges Misstrauen, sind bestimmte Erinnerung, die mich zum Teil heute noch prägen:

Die Schulspeisung, an die sich wohl jedes Ost-Schulkind erinnert und die – obwohl sie mir nicht immer geschmeckt hat – es mir heute schwermacht, am Essen herumzumäkeln.
Beziehungen, die heute und hier im Westen auch noch nur demjenigen schaden, der keine hat – nur eben nicht mehr in Bezug auf Dachpappe, sondern eher hinsichtlich der beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten, dem Ergattern von zeitnahen Arztterminen…
Meine Omas, die aus allem irgendwie Essbaren Kuchen, Eingekochtes oder Eingelegtes zauberten, das uns über die langen obst- und gemüsearmen Winter gebracht hat.
Meine Fähigkeit, mich auch mit Menschen verbindlich zu verabreden, ohne mit ihnen zu telefonieren.
Meine Angst vor Verkehrspolizisten, die sich erst im Laufe vieler Jahre in einen gesunden Respekt verwandelt hat. Heute kann ich bei einer Verkehrskontrolle auch trotz vergessenen Führerscheins ruhig und fröhlich bleiben, ohne damit zu rechnen, zur „Klärung eines Sachverhaltes mit auf die Polizeistation“ gehen zu müssen.
Freude über farbige Kleidung und weiß gestrichene Häuser.
Im Nachhinein eine fast grenzenlose Bewunderung, dass meine Mutter dasselbe Blei-Lametta jedes Jahr wieder auf den Weihnachtsbaum gehängt hat. Zwar benutze ich kein Lametta, aber Dinge zu entsorgen, die noch taugen, fällt mir schwer.
Nicht abwählbare Abiturfächer. Sind sie die Ursache dafür, dass mir die Angebotsauswahl in manchen Groß-Supermärkten nicht nur auf den Keks geht, sondern mich schlicht überfordert?
Sportunterricht, zwölf Jahre lang: im Winter Gymnastik und Ballsportarten, im Sommer Leichtathletik.
Eine Abneigung gegen Wegwerfgeschirr – auch wenn es bei größeren Menschengruppen praktisch sein mag.
Ein Lächeln an Kreuzungen mit einem grünen Pfeil.

Die Aufzählung ist unvollständig, natürlich. Und total subjektiv. Wir im Osten Aufgewachsenen sind eben auch nicht alle vom selben Schlag – da gibt es Unterschiede:
Dagebliebene und Weggegangene,
die mit und die ohne Westkontakte,
die Linientreuen, die weniger Linientreuen und die eindeutig Oppositionellen,
zur Wende noch Kind oder schon erwachsen,
etc.

Ich persönlich habe Gutes mitbekommen und sicher auch manch ungute Prägung. Aber ich kann wirklich nicht sagen, dass ich grundsätzlich misstrauisch bin, wer mich wo verpfeifen könnte.

So werden wir alle denselben Film schauen können, aber etwas anderes wird uns ansprechen. Unsere eigenen Erfahrungen machen es möglich, dass wir Stilmittel wie Übertreibung, Einseitigkeit und Ironie erkennen oder eben auch nicht. „Weißensee“ zeigt nur einen Aspekt, berechtigt und im Kern sicherlich wahr; dennoch bleiben derartige Filme vor allem eins – Filme, Fiktion. Sonst hießen sie ja Dokumentationen!