Auf meinem Fensterbrett steht eine Orchidee, momentan blüht sie. Ich besitze dieses Exemplar seit fast zwei Jahren – ein Geschenk meiner Kinder, den Anlass habe ich vergessen. Noch immer weiß ich kaum etwas über Orchideenpflege, nur so viel, dass sie keine `nassen Füße´ bekommen sollten. Daran halte ich mich und ernte beeindruckende Blüten, die ich sehr bewusst wahrnehme: Auf meinem Fensterbrett blüht nichts anderes, einmal die Woche wässere ich die Pflanze. Jedes Mal freue ich mich und denke dankbar an meine Kinder – besonders auch an die, die mittlerweile woanders wohnen.
Hingucker
In unserer Nachbarschaft wohnt eine Frau, die keinen Zaun an der Straße hat. Wer vorübergeht, kann seinen Blick frei in den Vorgarten schweifen lassen. Die Grenze ist dennoch klar: Ein kleines altes Mäuerchen steht da; momentan ist es dekoriert mit bepflanzten Gummistiefeln – es sieht sehr freundlich aus.
Andere Hausbesitzer sind offenbar Anhänger neumodischer Zäune: Metallgerüste mit Plastikplanen, knapp zwei Meter hoch und alles in dunkelgrau. Diese gewährleisten vollkommenen Sichtschutz – und sehen sehr steril aus.
In beiden Fällen ziehen die markierten Grundstücksgrenzen die Blicke regelrecht an und doch unterscheiden sie sich – in Hingucker und kein Hingucker.
Der Hingucker
Vater und Tochter tanzen während ihrer Quarantäne-Zeit, drehen ein Video und stellen es ins Internet. Nichts daran ist perfekt: Die beiden tanzen zu typischer „gute Laune-Musik“ in ihrem Wohnzimmer; die Choreographie ist peppig, aber nicht anspruchsvoll; sie tanzen drauflos, einige Patzer sind inklusive. Die Teenager-Tochter ist schlank, bewegt sich fließend, schrittsicher und rhythmisch, sogar mit Gefühl – sie ist eindeutig die Initiatorin dieser Aktion. Der Vater macht mit. Er ist Anfang 50, von der Figur her eindeutig kein Tänzer und nicht besonders ernsthaft, aber engagiert bei der Sache: Alles an ihm tanzt – Füße, Hände, Rumpf, Gesicht. Manchmal weiß er nicht weiter, aber er kommt immer schnell „wieder rein“.
Meine Tochter raunt mir zu: „Man schaut irgendwie nur zu ihm, oder?“ Sie hat recht – beide tanzen, aber so richtig „sieht“ man nur den Vater. Woran liegt das? Eine perfekte Vorstellung liefert dieser Normalo-Mann um die 50 nicht; das schafft eher seine Tochter. Ja, er hat Taktgefühl und kann sich erstaunlich schnell bewegen. Aber vor allem hat er ganz offensichtlich viel Spaß und strahlt Leichtigkeit und Lebensfreude aus. Er nimmt sich selbst nicht zu ernst und wird doch nicht dilettantisch. Und genau dadurch ist er attraktiv und wirkt total ansteckend – ein (unvollkommener) Hingucker eben.