Der neueste Schrei

Ich sichte Fotos der letzten 15 bis 20 Jahre. Die Kinder sind farbenfroh gekleidet – man könnte es auch ausgefallen nennen. Fast alles war geschenkt oder von Bekannten geerbt, ich musste nur selten losziehen und Kleidung kaufen. Zehn Jahre später lösen die Schnappschüsse bei meiner Tochter regelmäßig Schnappatmung aus: „Mama, wie hast du uns nur angezogen!“ Wenn sie wüsste, was ich in meiner Kindheit tragen durfte: von oben bis unten in Strick-Optik, als Krönung im Partnerlook mit meiner Puppe!

Meine Kinder verdrängen bei ihrer Kritik leicht, dass sie nur wenige Jahre später selbst zu den abstrusesten Stil-Verirrungen tendierten – freiwillig. Ich weiß inzwischen, dass es kaum etwas kurzlebigeres gibt als ein modisches Outfit: heute angesagt, morgen untragbar und in ein paar Jahren wieder der `neueste Schrei´! Entsprechend betrachte ich die alten Fotos von mir mit einem milden Lächeln.

Erntezeit

Früher – und für Bauern heute noch – bestand das Leben zum großen Teil aus harter Arbeit. Es war nicht nur bestimmt von Aussaat und Ernte: Dazwischen lagen Wochen oder Monate der Pflege. Erst am Ende dieser Zeit stand die Ernte dessen, was man gesät, gedüngt und gewässert und worum man sich gekümmert hatte. Erntezeiten waren deshalb Feierzeiten und sind es noch – wir erinnern uns daran mit dem Erntedankfest am ersten Sonntag im Oktober. Die Zeit des Wachsens und Gedeihens geht vorüber, der Winter naht. Zu ernten ist auch Arbeit, aber nicht nur: Sie ist auch der sichtbare Erfolg langer Mühen. Dem Ernten wohnt die Freude über das Ergebnis inne, das motiviert. Die Ernte zu verzehren macht dankbar.

Ähnliches gilt für das Leben. Lernen oder üben kommt immer vor Können – beim Laufen und Sprechen ebenso wie im Sport oder in der Schule. Jeder Erfolg, alles Selbstgemachte erfordert Kraft, Geduld, Zeit und Vorbereitung: Wenn man Kalender gestalten und verschenken will, muss man vorher Fotos sichten. Das Anschauen, Sortieren und Auswählen dauert Stunden und ist eine mühselige Arbeit. So schön viele Fotos sind, so viele weniger brauchbare sind dazwischen. Auf halber Strecke verlässt einen die Lust am Tun, aber man macht trotzdem weiter. Dann sind die Vorbereitungen abgeschlossen und sie ist da – die Zeit der Ernte: Mit einer guten Foto-Auswahl ist es keine mühselige Arbeit mehr, einen Kalender zu gestalten. Diesem Tun wohnt die Freude über das Ergebnis inne, das motiviert. Der fertige Kalender macht dankbar.

PS: Selber kaufen ist nicht dasselbe …

Fotoalben

Vor 27 Jahren war ich für ein halbes Jahr in Australien – arbeitend und reisend. So ähnlich wie „work and travel“. Die vergleichsweise wenigen Fotos, die es aus der Zeit gibt, habe ich ganz altmodisch in ein Album geklebt. Kürzlich habe ich dieses wieder angeschaut und mit Erstaunen festgestellt, dass mir die Fotos weniger bedeuten als noch vor zehn Jahren. Ich habe einen gewissen Abstand dazu – so wie ich einen gewissen Abstand zu meinem 21-jährigen Alter Ego habe. Es war eine tolle Zeit, ich habe sie genossen, sie hat mich verändert. Aber sie hat ein wenig ihren Wert verloren.

Ist das mit allen Erfahrungen so? Dass sie sich einreihen in die vielen Erfahrungen, die wir machen, und durch die Fülle im Leben ihren besonderen Wert verlieren? Ich weiß es nicht. Ich ahne nur, dass ein Moment oder auch eine Lebensphase uns am meisten bedeutet, während wir mitten drin stecken.