Meine Nichte hat uns eine Weihnachtskarte geschickt. Sie hat persönliche Worte gefunden, an uns gedacht – das ist schön. Vor allem aber sieht man der Karte selbst an, dass hier ein besonders begabter Mensch am Werk war: Schon auf dem Umschlag ein kleines Bild, das klarstellt: Dies ist ein Weihnachtsgruß. Innen dann eine handgefertigte Karte. Mit wenigen, allerdings gekonnt platzierten Pinselstrichen hat sie bunte Figuren aufs Papier gezaubert. Sie sind nicht ausgeformt oder klar erkennbar, es ist mehr ein Spiel aus Farben. Die Karte ist geschmackvoll gestaltet und spiegelt eine Leichtigkeit wieder, die mir in künstlerischen Dingen total abgeht. Ich bewundere meine Nichte und sehe ihre Begabung, die über das Normale hinausgeht, über das Durchschnittliche ohnehin.
Mein Friseur fällt mir ein, der wirklich gut Haare schneiden kann. Nicht nur besser als die Laienschneiderin in mir, die unseren Kinder mehr oder weniger zufriedenstellend die Haare stutzt. Besser auch als die meisten seiner Zunft. Einfach sehr, sehr gut – und es scheint ihm wenig Anstrengung abzuverlangen. Er muss sich konzentrieren beim Schneiden, er muss etwas tun, es ist Arbeit für ihn. Vor allem aber hat er den entscheidenden Blick, wem was steht, wo noch etwas geschnitten werden muss, damit eine Frisur gut sitzt – nicht nur eine Woche lang.
In der Schule meiner Kinder ist ein Mädchen, die kann ungewöhnlich gut singen. Bei einem Chorauftritt letztens hatte sie ein klitzekleines Solo. Schon beim ersten Ton hat man gehört: Hier singt jemand in einer anderen Liga. Volumen klang da mit, Töne, die nicht nur richtig sind, sondern etwas zum Schwingen bringen in den Zuhörern.
Besonders begabt sind nur wenige Menschen und auf ganz verschiedene Weise. Besondere Begabung ist selten und sofort erkennbar. Wenn ich ihr begegne, zaubert sie mir ein neidloses Lächeln ins Gesicht.