Auf Augenhöhe

Um meinen Kindern gerade in die Augen schauen zu können, musste ich mich einige Jahre zu ihnen hinab beugen. Mittlerweile muss ich ich mich bei den meisten von ihnen strecken – oder sie beugen sich zu mir hinab. Auf jeden Fall muss einer von uns sich bewegen.

Ein Freund von mir ist Professor, ich kenne ihn schon sehr lange. Er ist nicht nur auf seinem Fachgebiet sehr schlau – das sollte ein Professor ohnehin sein. Er ist zudem neugierig, interessiert und intellektuell beweglich, geistig wach.

Ich halte mich selbst nicht für dumm, spiele vom Verstand her allerdings in einer anderen Liga: Neugierig und interessiert bin ich auch; die intellektuelle Beweglichkeit und geistige Aufnahmekapazität meines Hirns sind bei mir jedoch klarer und enger begrenzt als bei diesem Mann. Für unsere Freundschaft hatte dieser Unterschied nie eine Bedeutung – wir waren und sind als Menschen trotzdem auf Augenhöhe. Ich muss mich dafür weder strecken noch beugen. Dass das möglich ist, liegt mehr an ihm als an mir.

Auf Augenhöhe oder in Schieflage

Wenn ich in der Grundschule Brötchenhälften belege und in der Pause verkaufe, gehe ich beim Verkaufen in die Hocke. Dann lächeln die Kinder meist. Sie brauchen trotzdem lange, um ihr Geld rauszusuchen und noch länger, um die Preise auszurechnen oder das Wechselgeld zu verstauen. Und sie fühlten sich wohl ebenso ernst genommen, wenn ich aufrecht stehen bliebe. Dennoch: Ich nehme mir das nicht vor, ich mache es einfach. Ich gehe auf Augenhöhe. Bei den Kindern fällt es mir leicht.

In Gesprächen mit Erwachsenen ist die physische Augenhöhe meist von allein gegeben, aber empfinden wir uns auch innerlich, seelisch, geistig auf Augenhöhe? Ich fühle mich schnell mal überlegen, wenn Menschen mir von Problemen berichten, die ich schon längst hinter mir gelassen habe: „Du weißt nicht, ob du im Kindergarten zu dem Elternabend gehen kannst? Andere Sorgen hast du nicht?“ Ebenso schnell fühle ich mich unterlegen, wenn Leute deutlich schlauer wirken oder sind als ich. (Obwohl diejenigen, die es tatsächlich sind, ganz häufig nicht so wirken und es mich in der Regel nicht spüren lassen.)

Am besten sind die Begegnungen, in denen es um Ebenbürtigkeit nicht geht, weil sie von vornherein da ist. Da werden die Unterschiede nicht totgeschwiegen oder ignoriert, sondern überlagert – von Wertschätzung, Annahme, unangestrengter Freundlichkeit und ehrlicher Freude über den anderen. Ehrlicherweise muss ich zugeben, dass unsere verschiedenartig gelagerten Kompetenzen uns ja immer auf Augenhöhe begegnen lassen könnten: Was ich schon weiß und kann, spielt sich nur in anderen Bereichen statt als bei anderen. Jegliches Bewerten – ob bewusst oder unbewusst – ist subjektiv und die Wurzel der empfundenen Schieflage.