Hinter mir lassen

Ich habe den Eindruck, der Blick von Kindern geht nur nach vorn; als käme es im Leben darauf an, Dinge hinter sich zu lassen und abzuhaken: Etwas lernen, es dann können und das Nächste anpacken. Das gilt für alles. Laufen, Radfahren, sprechen, Schule, Ausbildung, FÜHRERSCHEIN, Jobeinstieg, Familie gründen etc. Manches wird ein Automatismus, den man wahrscheinlich nie mehr verlernt, immer nutzt, für selbstverständlich nimmt. Laufen zum Beispiel. Anderes vergisst man und lässt es wirklich hinter sich. Bei mir sind es – unter anderem – Kurvendiskussionen, Redoxreaktionen und Russisch.

Mittlerweile glaube ich allerdings, es kommt im Leben eher darauf an, Zustände zu erleben. Sie nicht abzuarbeiten, sondern in ihnen zu sein. Mensch, Freundin, Mutter, Berufstätige – die Liste ist erweiterbar. Aus dieser Perspektive ist kein Lernen irgendwann vorbei: Wie ich mich in einer Sprache IMMER weiterentwickeln kann, werde ich auch in den Umständen und Zuständen, in denen ich lebe, nicht fertig. In den entscheidenden Bereichen meines Lebens lerne ich nicht aus und lasse nicht viel hinter mir. Ich schleppe meine Erfahrungen mit mir herum wie einen Schatz – oder wie einen Klotz. Und manchmal reichen sie nicht aus für die Situation, in der ich bin, und eine neue „Lösung“ muss her. Nur für die allerwenigsten Dinge und Situationen gibt es einfache Lösungen. Und sehr selten nur eine.

Das kann ich als frustrierend empfinden oder auch als entlastend: Ich muss flexibel sein und lernwillig bleiben. Dafür darf ich Fehler machen und keine Antwort haben. Mein Leben besteht nur zu einem sehr geringen Teil aus „abhaken“. Und erst im Sterben werde ich es wirklich hinter mir lassen.