Ich glaub´, es geht los!

„Ja, das hast du mir heute Morgen schon erzählt“, unterbricht mich meine Tochter nach den ersten zwei Sätzen. Erst wundere ich mich ein bisschen, dann fällt es mir wieder ein – sie hat recht. Wenig später frage ich sie etwas anderes. Erstaunt schaut sie mich an und sagt, dass wir darüber doch gestern Abend schon gesprochen hätten. Dieses Mal fällt es mir in dem Moment selbst wieder ein – sie hat recht. Ich glaub´, es geht los, denke ich mir, ich werde älter.

Es soll normal sein, dass man Dinge vergisst, wenn man älter wird: Was man nochmal im Keller holen wollte zum Beispiel oder wie doch gleich die Bekannte hieß, die man so selten trifft (Kirsten und Kerstin werfe ich gern durcheinander, Anke und Antje oder Jeanette und Jaqueline sind auch geeignete Kandidaten). `Älter werden´ ist dabei ziemlich relativ – was heißt das schon? Wir werden alle jeden Tag älter; und manche Vergesslichkeit hat mit dem Alter nichts zu tun: Ich habe schon in der Grundschule wahnsinnig oft meine Hausaufgaben vergessen; und zu unseren Finanzen könnte mein Mann mir alle drei Monate dasselbe erzählen – und es wäre immer (fast ganz) neu für mich.

Die beiden aktuellen Situationen mit meiner Tochter fallen weder unter `lästig´ (Hausaufgaben), noch ist es `Desinteresse´ (Finanzen). Sie sind vielleicht dadurch erklärbar, dass ich in beiden Fällen keine Antwort auf meine Kommentare bekommen hatte. Ohne Klärung kann ich keinen mentalen Haken dranmachen und wiederhole mich. Das darf sein, würde ich sagen, das ist dann weniger vergesslich als vielmehr hartnäckig. Allerdings ist auch das eine Eigenschaft, die eher dem Alter zugeschrieben wird – Alterssturheit. Es hilft nichts; ich glaub´, es geht los: das Alter, in dem man alles Mögliche mit dem Alter erklären kann. 

Kummer aller Art

Ich lese ein Büchlein von Mariana Leky, es heißt: Kummer aller Art. Sie beschreibt – auf humorvolle Art – verschiedene Situationen, in denen Menschen Kummer haben. Habe ich schon Kummer erfahren? Sicher, auch wenn ich es nicht so nennen würde. Kummer ist weniger stark als Leid; von Niedergeschlagenheit ist im Internet die Rede. 

Momentan bin ich verständlicherweise, aber doch unspezifisch kummervoll: Mein drittes Kind zieht aus. Zunächst geht sie für ein Jahr weg aus Deutschland; sie wird woanders Menschen guttun, helfen und sich nützlich machen. Danach kommt sie zurück – aber doch nicht wirklich. Ihr Weggehen ist nicht nur für ein Jahr, sondern natürlich in gewisser Weise endgültig. Unsere Tochter verlässt ihr Elternhaus. Kinder tun das irgendwann – wie sonst sollen sie fliegen lernen?

Und obwohl ich das weiß und mich mit ihr freue und stolz auf sie bin, ist da auch eine gewisse Niedergeschlagenheit: Der nahende Abschied bekümmert mich – meine Tochter hinterlässt hier eine große Lücke. Das Neue, das für uns kommt, kennen wir noch nicht. Ich stelle es mir eher langweilig vor, es `riecht´ vorrangig nach Verlust.
Unserer Tochter geht es ähnlich: Der nahende Abschied bekümmert sie – sie lässt hier viele gute Freunde und eine angenehm vertraute Umgebung zurück. Das Neue, das für sie kommt, kennt sie noch nicht. Sie stellt es sich eher spannend vor, es `riecht´ vorrangig nach Gewinn.

Aus Erfahrung weiß ich, dass nichts nur eine Seite hat. Unsere Zeit ohne diese Tochter wird nicht nur doof; ihre Zeit weit weg von uns wird nicht nur super sein. Am Ende des Jahres werden wir alle sowohl Freude als auch Kummer aller Art erlebt haben.

Immer das gleiche Schema: stolpern – fallen – landen

Es ist mir schon wieder passiert; auf meiner Laufrunde bin ich gestürzt. Kurz zuvor dachte ich noch, wie gut es uns geht und dass gerade in solchen Zeiten gern Unerwartetes geschieht und schwupps – falle ich hin. Die Abfolge ist festgelegt: Erst stolpere ich über eine der zahlreichen Wurzeln auf meiner Wald-und-Wiesen-Runde. Als nächstes versuche ich, mich mit ein, zwei raumgreifenden Schritten abzufangen: leider erfolglos. Zum Schluss strecke ich die Hände aus und lande – nie auf den Knien, sondern – auf der linken Hüfte und bewahre den Oberkörper mit ausgestreckten Händen davor, aufzuschlagen.

Unten angekommen, gilt der erste Gedanke meinen Handgelenken, denn die kann man sich in meinem Alter gern mal kompliziert brechen. Gleichzeitig hoffe ich, dass just an meinem Landeort kein Hundestinker liegt. Und danach schaue ich, ob unfreiwillige Zuschauer in der Nähe sind. Dreimal Nein ist ein super Ergebnis: kein Bruch, keine Hundesch… und auch keine Zuschauer. Ich stehe auf, einigermaßen würdevoll, und laufe langsam wieder los – auf den ersten 100 Meter mit bewusst angehobenen Füßen. Spätestens dann weicht die etwas ärgerliche Verwunderung über meine Flugeinlage einer tiefen Dankbarkeit für deren glimpflichen Ausgang.

Last Minute

Ein Kind fliegt morgen weg – für vier Wochen, das andere am Sonntag – für elf Monate. Bis heute hatten beide die Ruhe weg und fangen jetzt mit dem Packen an. Was mit muss, ist klar, nicht aber, wie alles am besten auf die insgesamt vier Koffer verteilt werden sollte. Als wäre das nicht genug Unsicherheit, fallen den Reisenden dann doch noch Last-Minute-Mitbringsel-Ideen ein. „Die kleinen Gummibärchentüten in den großen Packungen werden auch immer weniger“, klagt mein Sohn. Er hat recht: Dinge werden teurer und gleichzeitig kleiner. Egal; da, wo unsere beiden hinfliegen, sind Gummibärentüten so selten, dass wir gern eine Sammeltüte mehr mit auf die Reise schicken.

Interessanterweise habe ich als Mutter die Ruhe weg – jedenfalls bis heute. Mal sehen, ob mich auf den letzten Metern noch ein Last-Minute-Abschiedsschmerz überfällt.

(Un)gewohnt

Wegen des Hochwassers im Frühjahr stellten wir alles Mögliche im Keller hoch auf Getränkekisten. Der Gefrierschrank reichte dadurch fast bis zur Decke und wackelte – ebenso unser zweiter Kühlschrank. Die Waschmaschine musste auf ihrem Kisten-Sockel festgezurrt werden, damit sie auch während des Schleuderns oben bleibt. Zunächst saß uns der Schreck noch in den Gliedern, dann hatten wir immerzu andere Dinge zu tun: Das Provisorium blieb. Erst seit einigen Wochen sind wir sicher, dass wir im nächsten Winter nicht gleich wieder absaufen werden.

Vergangenen Samstag nahmen wir uns also Zeit, alles wieder so hinzustellen, wie es gehört, und die nicht mehr benötigten Getränkekisten wegzubringen. Obwohl es im Keller jetzt wieder normal, aufgeräumt und richtig aussieht: Jedes Mal, wenn ich runtergehe, ist der Anblick für mich ungewohnt. Vor allem die Waschmaschine irritiert mich – in den vergangenen acht Monaten hatte ich die rückenfreundlichere Einfüllhöhe schätzen gelernt. Aber dass die leeren Flaschen in den Kisten nicht mehr (wie inzwischen gewohnt) klimpern, während die Waschmaschine oben drauf schleudert: Es ist kein Verlust.

Schade

„Man hält mich für religiös“, schreibt eine Satirikerin, „wer mich kennt, fragt sich, wie das nur passieren konnte.“ Es soll lustig sein, glaube ich. Der Rest der Kolumne hat einen scherzhaften Ton, der deutlich macht, wie lächerlich es ist, heute noch in die Kirche zu gehen. Mir tut das weh; meiner Meinung nach gibt es Grenzen für Lächerlichkeit. Der christliche Glaube hat hierzulande einen schlechten Ruf, aber nichts anderes hat uns so geprägt: unser Land, unser Volk, unsere Kultur. Wer sich auf keine Werte mehr einigen kann, verliert Orientierung und Halt – und hat auch keine Basis mehr für einen kritischen Diskurs. Abgesehen davon bin ich so dankbar, dass ich glauben kann:

Ich bin geliebt, gewollt und angenommen.
Keiner meiner Fehler ist so groß, dass Jesus ihn mir nicht vergeben könnte.
Mein Vater im Himmel hat einen guten Plan für mein Leben.

Es schmerzt mich, wenn sich so leichtfertig lustig gemacht wird über etwas, das mir so viel bedeutet und so viel Kraft hat. Angesichts derjenigen, die sich lustig macht, finde ich es vor allem sehr schade: Sie weiß gar nicht, worauf sie da so leichtfertig keinen Wert legt!

Ermutigend

Der junge Mann hinter mir in der Schlange hat nur ein Teil in der Hand: „Sie können gern vor“, biete ich ihm an. Er bedankt sich und legt seinen Lachs zwischen meine und die Einkäufe meines Vordermannes. Sein Rucksack und seine Hose sehen so aus, als hätte er keine Schutzbleche an seinem Rad. Dass ihn der Regen ja mächtig erwischt habe, sage ich deshalb. „Das ist das Ziel, bei dem Wetter macht eine Tour erst so richtig Spaß“, antwortet er lächelnd. 

Als ich nach draußen komme, steht der junge Mann neben seinem fast ebenso verdreckten Fahrrad; ich frage ihn nach `seiner Tour´. Es sei einfach ein guter Ausgleich, mit dem Rad quer durchs Gelände zu fahren, sagt er, nie unter 50 Kilometer. Mir gefällt sein Hobby besser, als vor irgendwelchen Geräten zu hocken – ihm offenbar auch: „Ich bin meinen Eltern auch dankbar dafür, wie sie mich diesbezüglich erzogen haben; ich durfte mir erst mit 16 ein Handy kaufen.“ Genau wie bei uns, denke ich und weiß: Gegenüber Zufallsbekanntschaften würden sich unsere Kinder ebenso positiv wie er über die digitale Zurückhaltung ihrer Eltern äußern.

Nett und mehr

Beim Spaziergang sehe ich immer wieder dieselben Leute, unter anderem eine Gruppe von Frauen mit ihren Hunden. Man grüßt sich freundlich und höflich – mehr nicht. Heute war eine von ihnen allein unterwegs, ungefähr mein Alter, zwei Hunde. Als ich sie ansprach, guckte sie ein bisschen verhalten, als würde sie denken: Was will die jetzt von mir? „Ich finde, dass Sie einen ganz tollen Kleidungsstil haben“, sagte ich. Sofort verschwand die Skepsis und machte Platz für ein überraschtes breites Lächeln: „Oh, das ist aber nett, danke.“ Wir sprachen kurz weiter – über Problemzonen und altersangemessene Kleidung (und wo man die bekommt).

Bisher waren wir uns fremd: eine mit und eine ohne Hund, man grüßt sich – mehr nicht. Beim nächsten Treffen sind wir zwei Frauen mit einigen Gemeinsamkeiten. Und das alles nur, weil eine von uns der anderen etwas Nettes gesagt hat.

Hauptsache zu Fuß?

Da läuft ein Influencer von Berlin nach New York. Warum? Weil er Jugendliche motivieren möchte, Sport zu machen. Natürlich begleitet ihn ein Kamerateam – sonst wird das ja auch schwer mit dem Motivieren, weil keiner merkt, was er macht. Spontan frage ich mich, wie das (ganz praktisch) gehen soll: Zwischen Berlin und New York liegt der Atlantik; andersherum zu laufen und durch die vergleichsweise enge Beringstraße zu schwimmen, das traue ich ihm nicht zu. Und tatsächlich, erzählt mir mein Sohn, sei er inzwischen schon 700 Kilometer bis Frankreich gelaufen: also Richtung Westen. Zwischendurch wird er dementsprechend ein Stückchen fliegen, lese ich später – und zwar die 5.200 Kilometer von Porto in Portugal bis Boston in Amerika. Zu Fuß bleiben dann eben die restlichen 3.000 Kilometer bis Porto und ab Boston, was natürlich auch noch ganz schön weit ist.

Ich habe keine Ahnung, ob der junge Mann einen Zeitplan hat und diese Aktion jetzt sozusagen hauptberuflich betreibt. Dann wäre er angewiesen darauf, möglichst viele Likes für seinen Lauf zu bekommen – ich glaube zumindest, dass das so funktioniert. Bisher sieht es gut aus für ihn: Die Reaktionen im Netz sind rundum positiv. Finde nur ich das mit dem Fliegen irgendwie unpassend? Ich wundere mich, denn momentan redet schließlich jeder, der was auf sich hält, davon, dass wir möglichst wenig fliegen sollten. Insofern hätte der Mensch mit Einfluss sich doch auch eine andere Strecke aussuchen können. Es lassen sich innerhalb Europas auch ohne Flugzeug ganz ordentliche Strecken zurücklegen: Bis Lissabon sind es von Berlin aus 2.600 Kilometer, ebenso weit ist es bis an die Spitze von Norwegen oder nach Antalya in der Türkei. Alles wäre nur zu Fuß machbar und also deutlich nachhaltiger – allerdings ohne Manhattan Skyline nicht ganz so medienwirksam.

Pubertät? Vollkommen überschätzt!

Vor allem unsere vier älteren Kinder sind dicht hintereinander geboren, so dass Menschen in unserem Umfeld vor Jahren schon Mitleid mit uns hatten: „Ihr Armen! Ihr habt irgendwann mal zwei, drei oder vier Kinder gleichzeitig in der Pubertät.“ Es klang ein bisschen nach: „Zieht euch warm an.“

Auch in Zeitschriften und Büchern ist Pubertät ein beliebtes Thema: was für eine schwierige Phase das ist; Kinder die wochenlang ihr Zimmer nicht verlassen, sich nicht abmelden, respektlos mit ihren Eltern reden, ihre Stimmungsschwankungen rücksichtslos ausleben … Auf der anderen Seite stehen die Eltern: Sie halten aus und ertragen und genießen die wenigen Momente, in denen sie – dem vielleicht kränkelnden Teenager – Tee kochen können. All das hörte sich an, als müssten (und würden) Eltern kapitulieren vor der Urgewalt der Pubertät.

Seit unsere Kinder so alt waren (und sind), frage ich mich, ob übertrieben ist, was ich lese, und ob die Bedenken anderer Eltern auf realen Erfahrungen beruhen. Auch in den Gehirnen unserer Kinder wurde und wird einiges umsortiert. Aus `vor allem Sohn bzw. Tochter´ wird `vor allem Freund unter Freunden´. Sie müssen sich von uns abgrenzen und wollen erwachsen sein; entsprechend ändert sich das gewohnte Miteinander zu Hause. Das ist alles in Ordnung. Aber für Respektlosigkeit war und ist kein Platz bei uns – in beide Richtungen. Nicht nur Eltern, auch Heranwachsende müssen sich manchmal zusammenreißen und (wenn nötig) entschuldigen. Inzwischen denke ich immer wieder: Was für tolle Kinder wir haben; wie schön, dass sie sich selbstbewusst ihren eigenen Weg suchen! Sie waren oder sind pubertär und das ist manchmal anstrengend – aber mit fünf Kleinkindern wäre ich momentan vollkommen überfordert.