Theater

Im Theater sitzen wir vor vier jungen Menschen. Vor der Aufführung unterhalten sie sich angeregt miteinander – gelegentlich unterbrochen von einem energischen „Zzsch …“ aus der eigenen Reihe (sozusagen). Während der Vorstellung interpretieren sie flüsternd, aber für mich dennoch vernehmbar, was auf der Bühne passiert. Es stört mich ein bisschen: Im Zuschauerraum eines Theater herrscht normalerweise Ruhe; kommentierende Gespräche kenne ich nur aus dem Kino – und schätze sie auch dort nicht.

Als es zur Pause läutet, höre ich von hinten: „Ich habe ja mal in der Theater-AG meiner Schule mitgemacht; aber das hier ist schon eine ganz andere Nummer.“ Das wundert mich nicht; ich halte mich mit einer Bemerkung zurück. Wie schön, dass junge Leute dem Theater gegenüber aufgeschlossen sind. Dafür nehme ich ihr klärendes Getuschel direkt hinter mir gern in Kauf.

Vorurteil

Während ich auf dem Bahnsteig auf einen (verspäteten) Zug warte, sprintet ein junger Mann die Treppe hoch. Als er das leere Gleis erspäht, verzieht er enttäuscht sein Gesicht. `The train is running late!´, rufe ich ihm spontan zu. Es ist beruhigend gemeint, könnte jedoch missverstanden werden – schließlich sind wir in Deutschland. „Der Zug kommt später“, wäre angemessener gewesen. Zwar ist der junge Mann dunkler Hautfarbe und sind auch in unserer Stadt viele Migranten und Flüchtlinge unterwegs – aber beides MUSS nicht unbedingt miteinander zu tun haben. In diesem Fall liege ich richtig: Der Reisende kommt aus Ruanda und spricht (noch) besser Englisch als Deutsch. Während wir gemeinsam auf den Zug warten, reden wir über sein Herkunftsland, Deutschkurse, Studienmöglichkeiten …

Ich liebe die englische Sprache und freue mich über jede Gelegenheit, sie anzuwenden. Trotzdem ist es wahrscheinlich ein Vorurteil, das mich beim Anblick eines dunkelhäutigen Menschen spontan zum Englischen greifen lässt – wie unbewusst auch immer.

Keine große Sache

Auf Äpfeln aus dem Supermarkt klebt oft ein kleines Schild – meiner Meinung nach unnötig, aber nicht zu ändern. In jedem Fall muss das Schild abgezogen werden, bevor man den Apfel waschen und essen kann. Es gehört in den Müll; das ist keine große Sache. Dennoch finde ich diese Schildchen fast täglich irgendwo anders: auf der Arbeitsplatte direkt neben der Spüle, auf einem benutzten Frühstücksbrettchen, an der Klinke der Kellertür. Es ist einerseits faszinierend, wie konsequent die Kinder sich der Müllentsorgung in diesem Fall verweigern. Sie wählen den Weg des geringsten Aufwands. Andererseits ist es frustrierend, wie konsequent die Kinder die Müllentsorgung in diesem Fall jemand anderem überlassen – meistens mir. 

Ich sollte die Schildchen konsequent ignorieren, bekomme das aber nicht hin. Es macht mir weniger aus, den Kindern ihren Müll hinterher zu räumen, als den Müll der Kinder in meinem Wohnraum zu ertragen. Konsequent wäre es, die Schildchen direkt in die Zimmer der Kinder zu bringen – so wie ihre anderen Besitztümer, die sie anstrengungslos fast täglich irgendwo liegen lassen. Allerdings scheinen meine (Auf-)Räumaktionen meine Kinder NICHT zu beeindrucken; und der Weg zum Mülleimer ist für mich kürzer. Also entsorge ich die Schildchen selbst, es ist keine große Sache: Ich wähle den Weg des geringsten Aufwands.

Aufschieberitis und ihre Folgen

Eine meiner Töchter verschiebt Schul-Aufgaben gern nach hinten, wenn sie andere wichtige Dinge zu tun hat – also eigentlich fast immer. Am Ende gerät sie dann regelmäßig unter Zeitdruck und muss last minute alles geben. In Sachen Zeitmanagement besteht noch Luft nach oben. Ich als Mutter weiß, dass sie daran wahrscheinlich nur dann etwas ändert, wenn es zu unbequem wird: wenn sie merkt, dass sich die Suppe nur schwer auslöffeln lässt, die sie sich eingebrockt hat. Von daher wäre es aus erzieherischer Sicht konsequenter, meine Tochter mit den Folgen ihres Handelns allein zu lassen.

Dennoch gab es unlängst wieder einen Fall, bei dem ich unterstützend zum Löffel gegriffen habe – sozusagen: Ich half ihr beim Korrekturlesen ihrer Facharbeit, nur Stunden vor der fälligen Abgabe. Pädagogisch war das vielleicht unklug, auf der Beziehungsebene meinem Empfinden nach weise. Manchmal bin ich als Mutter lieber barmherzig als belehrend – wissend, dass eine andere wichtige Lektion fürs Leben dadurch besser hängenbleibt: Zugewandte Gnade ist eine liebevolle Alternative zu distanzierter Konsequenz – und wahrscheinlich oft eindrücklicher.

Makellos oder echt?

Die Kirschen, die ich auf meinen Tortenboden lege, sind ungleichmäßig: einige rund und groß, die meisten eher klein und manche durchs Entsteinen mehr oder weniger zerfetzt. Auf dem Foto im Backbuch tauchen die suboptimalen Exemplare nicht auf – obwohl sie wahrscheinlich oft in der Überzahl sind. Auch in der Werbung sind Äpfel immer gleich groß und `genau richtig´ rot, und Prospekte enthalten nur Fotos von perfekt arrangierten Mahlzeiten.

Dabei entsprechen diese geschönten Bilder nicht der Realität; ich finde das schade. Es ist einerseits verständlich, dass nur das Beste gezeigt werden soll: Schließlich will man Kunden gewinnen – und die lassen sich vielleicht besser locken mit tollen Fotos. Andererseits zeigen diese eine makellose Wirklichkeit, die nicht real ist: Food Stylisten verwenden neben echten Lebensmitteln auch Stoffe wie Holz, Lycerin, Gummi, Wachs … Insofern zeigt das perfekte Foto eines Kirschkuchens eine nicht essbare Illusion. Dagegen sieht mein Kirschkuchen vielleicht fehlerhaft aus – aber er schmeckt.

Anders

Menschen haben dunkle oder helle Haut, sind klein, groß, dick oder dünn, blitzgescheit oder lernbehindert, jung oder alt. Wir haben Geschwister oder auch nicht, sind alleinstehend, liiert, verheiratet oder geschieden, kinderreich oder kinderlos. Manche sind psychisch labil, einige nervenstark; es gibt chronisch Kranke und Leute wie die Queen. Der eine ist risikofreudig, der andere super vorsichtig – und unterschiedlich belastbar sind wir auch. Extrovertierte sind in der Regel lauter als Introvertierte; schüchterne Persönlichkeiten stehen eher in der zweiten Reihe, großspurige und impulsive Typen dagegen ganz vorn. Außerdem ist, wer viel besitzt, nicht unbedingt glücklicher als ein armer Schlucker.

Alle diese Eigenschaften, Umstände, Begabungen und Begrenzungen prägen uns und machen uns zu denen, die wir sind. Nicht zwei Menschen auf der Welt ähneln sich vollkommen oder leben genau gleich. Wir bemerken ja manchmal sogar, dass wir heute anders `drauf sind´ als noch vor 20 Jahren – und reiben uns am stärksten an denen, die so sind wie wir!

Kurz: Wir sind verschieden – `divers´: schon immer gewesen und in vielerlei Hinsicht. Jeder, der in Beziehungen lebt, merkt das und findet es sowohl gut als auch herausfordernd. Es ist mir daher völlig schleierhaft, wieso `divers´ heutzutage so betont wird: als würden unsere unterschiedlichen Identitäten erst jetzt gebührend gewürdigt – und hätten sowieso hauptsächlich (oder gar ausschließlich) mit unserer sexuellen Orientierung zu tun.

Rollstuhlfahrer kommen in Deutschland noch immer nicht in jede Schule; eine Theaterführung für Gehörlose ist (zumindest in unserer Kleinstadt) eine Besonderheit; Bürgersteigkanten, die Sehbehinderten die Orientierung erleichtern sollen, stellen Stolperfallen dar – für eilige Radfahrer … Wir werden noch lange brauchen, bis in unserem Land wirklich JEDER gleichermaßen berücksichtigt und umsorgt wird. Von Staats wegen scheint das Augenmerk momentan vor allem auf einer Form von divers zu liegen, der Geschlechtlichkeit: Es geht um die dritte Toilette, urkundliche Einträge oder sprachliche Anpassungsversuche. Aber auch in diesem Bereich – wie in allen anderen – beginnt gegenseitige Wertschätzung bei uns persönlich: in Form von freundlichem Respekt und Rücksichtnahme allen gegenüber – selbst wenn sie anders sind als wir.

Tausche Gebet gegen Säbelrasseln?

Die Dänen wollen einen Feiertag abschaffen, um mehr Geld ins Militär stecken zu können. Soweit so gut: Wenn der Staat dringend Geld braucht, muss das Volk mehr arbeiten. Dass nun unbedingt der `Große Gebetstag´ gestrichen werden soll, klingt für mich – jedenfalls ein bisschen – zynisch. Wobei ich gar nicht weiß, ob ich genau das meine: zynisch. Zum einen fällt es mir schwer, zynisch, ironisch und sarkastisch exakt voneinander zu unterscheiden. Zum anderen bin ich tatsächlich nicht ganz sicher, was ich von dem Plan halten soll: tausche Gebet gegen Säbelrasseln.

Dabei ist mir natürlich vollkommen klar, dass in Dänemark fast niemand mehr einen für das `große Gebet´ bestimmten Feiertag auch dazu nutzt. Bei uns denkt ja am Tag der Arbeit auch niemand pausenlos an die Arbeit; nur einige erinnern sich Karfreitag und Ostermontag an den Tod und die Auferstehung von Jesus Christus; und der Buß- und Bettag motiviert sicher wenige von uns, Buße zu tun und zu beten. Die meisten Feiertage sind in erster Linie eine willkommene Pause im normalen Arbeitsalltag – es wird landesweit weder produziert noch Geld erwirtschaftet. Entsprechend ist es folgerichtig, Löcher in der Haushaltskasse damit zu stopfen, einen von diesen nicht lukrativen Feiertagen ersatzlos zu streichen.

Dennoch klingt es für mich fast paradox: Der Mensch will den Frieden sichern, Kriege beenden oder vermeiden – und das einzige, was uns dazu einfällt, ist, aufs Beten zu verzichten? Gerade in Bezug auf Krieg und Frieden geraten wir Menschen an unsere Grenzen, ist das Verhandeln derart schwierig und eben nicht nur von militärischer Stärke abhängig. Gerade für den Frieden sind Kompromisse wichtig, müssen verfeindete Parteien aufeinander zugehen, sind Waffen und Gewalt nie die einzige Lösung, sondern Garant für großes Leid. Gerade hier braucht es Geschick, Empathie, Diplomatie, Risiko-Bereitschaft und Demut: den Mut zum ersten Schritt, zum Brückenbauen, zum Vertrauen. Wie aber kann all das am besten entstehen und begleitet werden, wenn nicht durch Gebet?

Ganz einfach besonders!

Ich bin zum Frühstück eingeladen und freue mich auf die Leute; kulinarisch erwarte ich nichts Besonderes. `Ein Frühstück halt´, denke ich, `Brötchen mit Käse und Marmelade, wahrscheinlich Obst, vielleicht Fisch, das wars.´

Der Tisch ist reich gedeckt – auch mit Käse, Marmelade und Obst. Aber daneben steht noch mehr: ein Brotaufstrich aus Bohnen, Walnüssen und Rosmarin zum Beispiel und ein Dip mit Datteln, Schmand und Harissa. Die Schneeballfrucht-Marmelade ist verfeinert mit Apfel, Kürbis und Johannisbeerlikör – und passt hervorragend zu den selbst gebackenen Brötchen. Vieles ist besonders und alles ausgesprochen lecker. Die Rezepte seien `ganz einfach´, meint die Gastgeberin und verspricht, sie mir zu schicken.

Ich nehme mir vor, meinen nächsten Gästen ebensolche Köstlichkeiten zu servieren, ahne aber, dass es bei dem Vorsatz bleiben wird: Meist stelle ich dann doch nur Käse, Marmelade und Obst auf den Tisch. Dabei ist es offenbar ganz einfach, ein Frühstück kulinarisch besonders zu machen – vielleicht auch für mich.

Luxus? Selbstverständlich!

Ausnahmsweise mache ich meinen Wocheneinkauf mit dem Auto: Eine erfolgreich abgearbeitete Einkaufsliste würde die Aufnahmekapazitäten meines Fahrradanhängers sprengen. Auf dem Parkplatz schnappe ich mir diverse Tüten und Kisten aus dem Kofferraum und will das Auto abschließen. Mit vollen Händen gelingt es erst beim dritten Versuch, per Knopfdruck die Zentralverriegelung auszulösen. Bevor ich mich darüber ärgern kann, realisiere ich, dass ein ehemaliger Luxus für mich selbstverständlich geworden ist: Unser vorheriges Auto besaß drei Türen und eine Kofferraumklappe – jedes mit rein mechanischen Schlössern versehen. Jahrelang hatte ich (per se) mit mindestens einem Kleinkind die Hände voll; aber ich kann mich nicht erinnern, dass mir das Abschließen Probleme bereitet hätte. Ich war wohl einfach besser sortiert; vor allem am Anfang reichte mir außerdem der Luxus eines geräumigen Autos. Als dieser selbstverständlich geworden war, wünschte ich mir Extras wie `mehr als 100 PS für zwei Tonnen´ oder `eine bis zu den hinteren Sitzen spürbare Heizung´ – vielleicht sogar eine Klimaanlage? Das nächste Auto erfüllte manche Wünsche und brachte die Zentralverriegelung gleich mit: für mich Luxus!

Gemessen an dem, was heute auf deutschen Straßen unterwegs ist, läuft unser Auto eher unter Standard. Ich könnte mir leicht mehr Luxus wünschen – muss ich aber nicht: Denn ich bin sehr zufrieden mit dem, was ich mittlerweile als selbstverständlich erlebe.

Ohnmächtig?

Ich fühle mich ohnmächtig – in Bezug auf alles Mögliche: Ich kann nichts gegen die Depression einer Freundin tun oder meinem Sohn das Lernen abnehmen; ich kann die Ehe eines alten Freundes nicht retten und schon gar nicht die Krebsdiagnose meines Bekannten verhindern. Ich kann nicht in die politischen Entscheidungen unserer Regierung eingreifen oder den Krieg in der Ukraine beenden – und den Bürgerkrieg in Syrien auch nicht. Das ist für mich manchmal schwer auszuhalten.

Ich kann also eine ganze Menge nicht; vielleicht kann ich sogar nichts? GEGEN meine Ohnmacht und FÜR all die Anliegen kann ich nur eins tun: beten! Was dann passiert, liegt noch immer nicht in meiner Hand. Aber ich fühle mich nicht mehr ohnmächtig – weil ich weiß, dass ein anderer sich kümmert um all das, was mich bekümmert. Gott hat die Letztverantwortung, ist souverän und allmächtig; meine Anliegen sind bei ihm gut aufgehoben. Das ist für mich leichter auszuhalten. Paul Gerhardt (1607 – 1676) wusste das auch:

„Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt
der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt.
Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege Lauf und Bahn,
der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann.

Dem Herren musst du trauen, wenn dir´s soll wohlergehn;
auf sein Werk musst du schauen, wenn dein Werk soll bestehn.
Mit Sorgen und mit Grämen und mit selbsteigner Pein
lässt Gott sich gar nichts nehmen, es muss erbeten sein.

Auf, auf, gib deinem Schmerze und Sorgen gute Nacht,
lass fahren, was das Herze betrübt und traurig macht;
bist du doch nicht Regente, der alles führen soll,
Gott sitzt im Regimente und führet alles wohl.

Ihn, ihn lass tun und walten, er ist ein weiser Fürst
und wird sich so verhalten, dass du dich wundern wirst,
wenn er, wie ihm gebühret, mit wunderbarem Rat,
das Werk hinausgeführet, das dich bekümmert hat.“