Nicht so einfach

Wir tun so, als könnten wir uns einer Meinung nur dann anschließen, wenn derjenige, der sie vertritt, gesellschaftlich anerkannt ist. Aber schon Sebastian Haffner bemerkte zutreffend (in seinen Anmerkungen zu Hitler): Man könne `nicht alles, was Hitler gedacht und gesagt hat, nur darum schon als indiskutabel … verwerfen, weil er es gedacht und gesagt hat… Dass Hitler falsch gerechnet hat, schafft die Zahlen nicht ab.´ So einfach ist es nicht.

Die Menschen

In einer Broschüre lese ich die Reiseberichte zweier Australien-Spezialistinnen, die schon öfter down under waren. Eine der Frauen war bereits 50-mal in Australien, weil es ihr so gut gefällt. Wirklich? 50-mal ist außerhalb meines Vorstellungsbereiches: zu weit weg, zu teuer und daher zu zeitintensiv. Finde ich. Beide Frauen empfehlen Urlaube im Wohnmobil: So habe man erstens das Gefühl grenzenloser Freiheit; außerdem garantierten die Einkäufe in örtlichen Supermärkten und Begegnungen an Übernachtungsplätzen den Kontakt zu Einheimischen. Und oftmals sei es das, was als Eindruck nach der Reise bleibt.

Das wiederum kann ich verstehen; deshalb war ich gerade zum zweiten Mal in Australien. Ich wollte die Menschen wiedertreffen, die ich vor 31 Jahren dort kennengelernt hatte – nicht die Orte. Entsprechend verbrachte ich Zeit mit diesen alten Freunden, arbeitete bei und redete mit ihnen. Ich weiß jetzt wieder, wie sie ihre Tage gestalten und was sie beschäftigt: wie sie versuchen, nachhaltig und sparsam zu leben, sich mit wenig oder viel Regen arrangieren und ihr Land gegen Feuer schützen. Wir teilen die Begeisterung für Worte und ihre Kraft, schmunzeln über dieselben Dinge, vertreten ähnliche Werte – und haben doch sehr unterschiedliche Glaubensüberzeugungen. In ihren Herzen habe ich (jetzt wieder neu) einen Platz (und sie in meinem) – selbst wenn wir uns wahrscheinlich nie wieder sehen werden.

Klar, Flora und Fauna in Australien sind fantastisch, die Vögel klingen anders (und sehr laut), der Himmel hängt (scheinbar?) viel mehr voller Sterne als der bei uns. Sicher sind auch die Strände wunderbar, ist die Kultur der `First Nation´-Leute sehr alt und interessant, staunt man auch nach vier Wochen noch über Kängurus und bleibt das Outback gleichzeitig faszinierend und gefährlich. Die Eindrücke am anderen Ende der Welt sind allesamt fremdartig, speziell und wunderbar. Aber für mich sind die Menschen dort entscheidend: ihre Freundlichkeit, ihre großzügige Gastfreundschaft, ihr unkompliziertes Vertrauen, ihre offenen Häuser, ihr trockener Humor. All das wird mir am längsten im Gedächtnis bleiben; die Menschen sind es, die mich an Australien am meisten begeistern.

Strom

Mein Mann macht das Abendbrot: Ofengemüse und Reis. Plötzlich geht das Licht im Wohnzimmer aus, der Ofen auch. Die Sicherung ist rausgesprungen – und lässt sich leider nicht wieder reindrücken. Das Gemüse und der Reis sind so gut wie fertig, aber leider hängt auch der Kühlschrank an dieser Sicherung. Wir müssen etwas tun, möglichst zügig. In Gedanken gehen wir Freunde und Bekannte durch: Wer `kann Strom´? Es sind nicht viele, alle wohnen außerhalb. Mir fällt einer unserer Nachbarn ein. Er werkelt ganz viel herum in Haus und Garten; ob er sich auch mit Elektrizität auskennt, weiß ich nicht. Fragen kostet nichts, denke ich, und mache mich auf den Weg. „Ich hab das mal gelernt“, antwortet er auf meine Frage, schnappt sich ein Kästchen mit Werkzeug und begleitet mich in unser dunkles Zuhause.

Er klemmt den Herd ab, aber der Sicherung scheint das noch nicht zu reichen. Es ist möglich, dass der Fehler gar nicht im Herd liegt, sagt unser Nachbar. Also ziehen wir bei sämtlichen anderen Geräten den Stecker – mit Erfolg: Irgendwann bleibt die Sicherung drin. Nacheinander stecken wir einen Stecker nach dem anderen wieder in die Steckdosen, als letztes wird der Herd wieder angeklemmt. Das Licht bleibt an, der Herd funktioniert. Woran lag´s? „Das kann man nicht genau sagen“, erfahren wir, „es kann in irgendeinem Gerät oder einer Leitung eine Kleinigkeit nicht stimmen. Entweder die Sicherung kommt irgendwann wieder oder nicht.“ Die Antwort ist unbefriedigend: Wir würden doch so gern WISSEN und UNTER KONTROLLE haben. Stattdessen werden wir wahrscheinlich nie erfahren, wo die Ursache lag – egal. Unser Gemüse essen wir kalt, aber das macht nichts. Wir sind dankbar für einen Nachbarn, der `Strom kann´ und gern hilft. 

Begegnung am Telefon

Ob ich an einer telefonischen Umfrage teilnehmen würde, bitte, bitte, fragt mich der Anrufer – in gebrochenem Deutsch. Ich lehne erst ab, aber er hakt fast flehend nach: für seinen Job, bitte, es gehe auch ganz schnell, vier oder fünf Minuten vielleicht. Zögerlich stimme ich zu. Im Verlauf der Befragung geht es immer wieder auch um meine Haltung zu Migration, Flüchtlingen, Fachkräften aus dem Ausland, deren Integration … Die Fragen sind Legion und komplex, meine Antworten nicht einfach; oft entscheide ich mich für `keine Angaben´. Am anderen Ende der Leitung müht sich offenbar ein Migrant, seinen Job gut zu erledigen und sich auch dadurch hier bei uns zu integrieren. Ich möchte das Gespräch zweimal abbrechen, bringe es aber nicht fertig. Immer wieder bittet der Anrufer mich um noch ein wenig Geduld – es gehe doch um seinen Job.

Letztlich dauert es deutlich länger als angekündigt; mein Gegenüber tut sich schwer mit den langen Fragen und meinen Antwort-Optionen: Nach 13 Minuten sind wir fertig, zum Schluss antworte ich nur noch kurz, knapp und fast schon unhöflich. Anschließend bedankt sich der junge Mann für das `freundliche Gespräch´; ich gehe zurück zu meiner Familie. „Warum hast du nicht früher aufgelegt“, fragt mich meine Tochter, die meine Ungeduld wohl durch die Tür wahrnehmen konnte. Ich weiß es selbst nicht, denke aber an eine der Fragen: Ob ich finde, dass von der Regierung genug für die Integration von Migranten getan werde. „Eher nicht“, hatte ich geantwortet und merke: Integration ist nicht nur etwas für die Regierungsebene, sondern für das persönliche Miteinander – manchmal auch am Telefon.

Zuhören

Nach einer Veranstaltung kommt meine Tochter ins Gespräch mit einer älteren Frau: „Ich weiß jetzt alles über ihre Krankheiten und auch sonst.“ Allein lebende oder gar einsame Menschen haben manchmal ein erhöhtes Redebedürfnis.

„Zuhören, aktiv zuhören, ist vielleicht einer der größten Liebesdienste, den man einem Menschen heutzutage erweisen kann“, sagt mein Mann, „und einer der anstrengendsten.“ Meine Tochter lächelt sparsam und nickt.

Das kriegst du schon hin!

Deutsches Brot ist weltweit bekannt – und unerreicht gut. Ein geschmackvolles Sauerteigbrot selbst zu backen ist jedoch kein Selbstläufer; ich habe es vor Jahren probiert und meine Familie damit nicht überzeugt. Am anderen Ende der Welt aß ich wochenlang selbst gebackenes Brot, das meine kläglichen Versuche von damals locker übertraf. Das Rezept? Ganz einfach natürlich, sagt man mir; ich bekomme ein selbst gemachtes Erklärvideo dazu. In Deutschland schaue ich es an – und stöhne: Die Zutaten sind zwar überschaubar und klar, aber `einige Teelöffel Salz´ lässt Raum zur Spekulation. Außerdem soll der Ofen `ziemlich heiß´ sein und die Konsistenz normalerweise `nicht so fest´ wie in dem Video. Auch 50 bis 75 Minuten Backzeit sind zu viel Spielraum für mein deutsches Hirn. Wie lange genau, `das findest du schon heraus´, heißt es lapidar und – ganz beruhigend: `Das kriegst du schon hin.´

Wahrscheinlich ist das genauso ein Rezept wie die Pi-mal-Daumen-Rezepte erfahrener älterer Hausfrauen: einfach oft genug ausprobieren, dann wird das schon. Ich frage mich, wie viele Probe-Brote ich meiner Familie wohl zumuten kann, bis ich mehr als eine akzeptable Variante hinbekomme. Aber dann probiere ich es doch. Am Ende fehlen einige Teelöffel Salz und vielleicht zehn Minuten Extra-Backzeit, abgesehen davon schmeckt es schon ziemlich gut. Ich bin fest entschlossen, durch weitere Versuche den richtigen Brotback-Dreh herauszufinden. Ich krieg´ das schon hin, denke ich mir.

Mehr als nur satt

„Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht.“
5. Mose 8, 3

Wenn ich durstig bin, trinke ich etwas, habe ich Hunger, esse ich. Als Ergebnis bin ich satt: Ich spüre, wie ich gestärkt werde und neue Energie bekomme. Dabei weiß ich ungefähr, was ich brauche und mir gut tut. Aber ich spüre nicht, wie die einzelnen Inhaltsstoffe mich nähren – ich vertraue, dass sie es tun.

Mit der Bibel ist es ähnlich. Ich weiß, dass Gottes Wort mir gut tut und mich nährt. Deshalb lese ich fast täglich in ihr und kenne mich ganz gut aus. Manche Verse sind mir sehr präsente Wahrheiten oder Richtschnur für mein Leben: nicht zu lügen zum Beispiel oder dass Jesus die Randfiguren der Gesellschaft ebenso liebt wie die, die von allen bewundert werden. Andere Stellen lese ich, ohne dass ich merke, wie diese mich prägen – ich vertraue, dass sie es tun.

Platz für alles

Ich bereite das Abendbrot vor und bin laut: Die Abzugshaube läuft und ich muss Sahne schlagen für den Nachtisch. Währenddessen bestellt eine Tochter eine Winterjacke, die andere sucht im Netz nach einer Umhängetasche für die Schule. Mein Sohn wuselt zwischendrin; die Kinder reden kreuz und quer miteinander. Manchmal braucht keiner ein eigenes Zimmer – die Küche ist der beste Platz für alles.

Wieder zu Hause?

Ob ich mit einem Kulturschock rechne, wenn ich wieder zurück fliege, hatte mich meine Freundin in Australien gefragt. „Nö“, sagte ich und dachte, dass ich ja schließlich NACH HAUSE fahre: Da kenne ich mich aus, das ist mir vertraut, daran bin ich gewöhnt.

Wieder zurück merke ich: Meine Leute sind ziemlich gut ohne mich zurecht gekommen. Das Leben ging für sie ebenso weiter wie für mich. Sie haben den Alltag wunderbar bewältigt – ohne dass ich ihnen großartig gefehlt hätte. Nachbarn sind gestorben beziehungsweise ins Altersheim umgezogen, eine Tochter hat eine Gürtelrose überstanden, ein Sohn lebt und studiert jetzt in einer anderen Stadt. Einiges habe ich mitbekommen, eine Menge nicht – ohne dass mir das großartig gefehlt hätte.

Meine Reise war nicht einfach nur ein besonderer Urlaub; ich war Teil einer anderen Welt und habe mehr als schöne Erinnerungen mitgebracht. Ich fühle mich inspiriert und möchte nicht einfach da weitermachen, wo ich vor fünf Wochen aufgehört habe. Leider (oder glücklicherweise) geht das auch gar nicht: Ich muss meinen Platz neu finden, er ist irgendwie nicht mehr derselbe – und ich auch nicht. Es knirscht im Miteinander; meine Leute und ich, wir müssen uns erst wieder `zurecht schuckeln´ und aneinander gewöhnen. Es wird ein paar Tage dauern.

Überraschend wunderbar!

Meine Rückreise dauert 36 Stunden: Auto, Flugzeug, Flugzeug, Bahn, inklusive Wartezeit zwischendurch. Am letzten Umsteigebahnhof stehen nachts (überraschend) meine Leute. Die letzten 35 Kilometer fahren wir mit dem Auto. Einen Tag später kommen (überraschend) meine beiden großen Söhne fürs Wochenende nach Hause. Ich freue mich sehr und bin dankbar für meine wunderbare Familie!