Geschäftigkeit – Mai 2017

Ein angebrochener Mittelfußknochen zwingt mich zu einer Ruhe, die ich sonst so nicht suchen würde. Mehrere Gedanken drängen sich auf:

Wir sind ein Volk der Betriebsamkeit; es fällt uns schwer, nichts zu tun oder uns wenigstens nicht über unser Tun zu definieren. Und das gilt nicht nur für die viel gescholtenen Schwaben mit ihrer „Schaffe, schaffe, Häusle baue“-Mentalität, sondern auch für mich.

Plus: Ich frage mich, was meine Zeit wert ist, wenn ich sie im Nichtstun verbringe. Warte insgeheim auf den Tag, an dem ich wieder durchstarten kann. Dabei bin ich gar nicht faul, nur ein bisschen ausgebremst in praktischen Belangen.

Drittens: Ich mache Dinge gern selbst, weil ich sie dann genau so machen kann, wie ich will – und das ist doch die beste Variante.

Last but not least: Ich halte eine aufgezwungene Ruhe schlechter aus als eine freiwillige. Während ich mich normalerweise immer mal wieder nach Pausen sehne, empfinde ich diese von außen verordnete als Zumutung – auf die Spitze getriebener Individualismus oder normaler Freiheitsdrang?

Wahrheit Weißensee?

Ich komme aus dem Osten – und meine damit die ehemalige DDR.  Als ich letztens beim Einkaufen diese Bemerkung fallen ließ, reagierte eine Mitkundin sofort: „Oh, ich schaue ja gerade `Weißensee´, das muss ja schwierig gewesen sein. Wem konnte man denn da vertrauen? Ich hätte das ja nicht ausgehalten.“

Interessant. Sicherlich war auch meine Familie bei der Stasi registriert; denn wir „hatten Westkontakte“, und das hat ja im Grunde schon gereicht, um dem Staatsapparat suspekt zu sein. Aber was ich meiner Ost-Vergangenheit eher zu verdanken habe als allgegenwärtiges Misstrauen, sind bestimmte Erinnerung, die mich zum Teil heute noch prägen:

Die Schulspeisung, an die sich wohl jedes Ost-Schulkind erinnert und die – obwohl sie mir nicht immer geschmeckt hat – es mir heute schwermacht, am Essen herumzumäkeln.
Beziehungen, die heute und hier im Westen auch noch nur demjenigen schaden, der keine hat – nur eben nicht mehr in Bezug auf Dachpappe, sondern eher hinsichtlich der beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten, dem Ergattern von zeitnahen Arztterminen…
Meine Omas, die aus allem irgendwie Essbaren Kuchen, Eingekochtes oder Eingelegtes zauberten, das uns über die langen obst- und gemüsearmen Winter gebracht hat.
Meine Fähigkeit, mich auch mit Menschen verbindlich zu verabreden, ohne mit ihnen zu telefonieren.
Meine Angst vor Verkehrspolizisten, die sich erst im Laufe vieler Jahre in einen gesunden Respekt verwandelt hat. Heute kann ich bei einer Verkehrskontrolle auch trotz vergessenen Führerscheins ruhig und fröhlich bleiben, ohne damit zu rechnen, zur „Klärung eines Sachverhaltes mit auf die Polizeistation“ gehen zu müssen.
Freude über farbige Kleidung und weiß gestrichene Häuser.
Im Nachhinein eine fast grenzenlose Bewunderung, dass meine Mutter dasselbe Blei-Lametta jedes Jahr wieder auf den Weihnachtsbaum gehängt hat. Zwar benutze ich kein Lametta, aber Dinge zu entsorgen, die noch taugen, fällt mir schwer.
Nicht abwählbare Abiturfächer. Sind sie die Ursache dafür, dass mir die Angebotsauswahl in manchen Groß-Supermärkten nicht nur auf den Keks geht, sondern mich schlicht überfordert?
Sportunterricht, zwölf Jahre lang: im Winter Gymnastik und Ballsportarten, im Sommer Leichtathletik.
Eine Abneigung gegen Wegwerfgeschirr – auch wenn es bei größeren Menschengruppen praktisch sein mag.
Ein Lächeln an Kreuzungen mit einem grünen Pfeil.

Die Aufzählung ist unvollständig, natürlich. Und total subjektiv. Wir im Osten Aufgewachsenen sind eben auch nicht alle vom selben Schlag – da gibt es Unterschiede:
Dagebliebene und Weggegangene,
die mit und die ohne Westkontakte,
die Linientreuen, die weniger Linientreuen und die eindeutig Oppositionellen,
zur Wende noch Kind oder schon erwachsen,
etc.

Ich persönlich habe Gutes mitbekommen und sicher auch manch ungute Prägung. Aber ich kann wirklich nicht sagen, dass ich grundsätzlich misstrauisch bin, wer mich wo verpfeifen könnte.

So werden wir alle denselben Film schauen können, aber etwas anderes wird uns ansprechen. Unsere eigenen Erfahrungen machen es möglich, dass wir Stilmittel wie Übertreibung, Einseitigkeit und Ironie erkennen oder eben auch nicht. „Weißensee“ zeigt nur einen Aspekt, berechtigt und im Kern sicherlich wahr; dennoch bleiben derartige Filme vor allem eins – Filme, Fiktion. Sonst hießen sie ja Dokumentationen!

Dyskalkulie

Über eine Dreiviertelstunde haben wir für Mathe gebraucht, und ich frage mich: „Hat mein Jüngster Dyskalkulie? Bin ich zu ungeduldig? Setze ich ihn zu sehr unter Druck mit meiner Genervtheit?“ Wieso ist es mir bei den anderen Kindern (und wirklich bei keinem!) nie so aufgefallen, dass Mathematik soooo schwer sein kann? Ich bin ratlos, möchte gut für mein Kind sein und bin es aber nicht. Die Hausaufgaben sind eine Herausforderung für ihn – und für mich auch. Hört das irgendwann auf? Jedes Mal, wenn man den Eindruck hat, eine Baustelle hat sich erledigt, tut sich eine andere auf. Wieso? Ist das so mit Kindern? Er kann nicht 30 plus 32 rechnen, danach noch weniger 30 plus 34. Ich sitze daneben und fange an, innerlich in die Luft zu gehen. Irgendwann ist er den Tränen nahe, weil er mein Unverständnis spürt. Und bei 41 plus 35 geht es gerade wieder so los.

….

Das Geschilderte hatte sich einige Wochen später total erledigt. Er hat nicht Dyskalkulie, er war nur an diesem Tag schon zu lange dabei. Mittlerweile rechnet er schon ganz prima und macht es auch wieder gern mit mir an seiner Seite. Dieses Kind hat sein eigenes Tempo und schafft in diesem alles sehr gut. Hätte ich als `erfahrene´ Mutter eigentlich wissen können…

Kennen

Jemanden kennen – was heißt das? Kürzlich habe ich mich gefragt, was es heißt, jemanden zu kennen. Unsere große, erweiterte Familie kenne ich – diverse Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins, teilweise mit Partnern und jedes Jahr mit einigen Kindern mehr. Aber – kenne ich sie wirklich? Wir treffen uns einmal im Jahr, immer sehr schön, immer im Hotel. Ich habe noch kaum jemand von ihnen in seinen eigenen vier Wänden besucht, umgekehrt ebenso. Eine Wohnung würde etwas mehr Aufschluss geben über die Persönlichkeit. Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist – stimmt das?

Ich bin ein Wortmensch, ich glaube, Menschen trifft man erst wirklich, wenn man mit ihnen redet, Gedanken mit ihnen teilt. Was genau zur Sprache kommt und wie ehrlich, das ist die nächste Frage und der nächste Schritt; einen Anfang kann man mit einem Gespräch aber schon machen. Ein Onkel meines Mannes ist kürzlich gestorben; in einigen Nachrufen erfuhr ich posthum mehr von ihm als in den 18 Jahren zuvor. Schade, er war ein stilles Wasser. Weil ich ihn aber nicht kannte, weil ich kaum mit ihm geredet habe, ist der Verlust, den ich spüre, begrenzt.

Viel Punkt, kein Komma

Hauptsätze sind gut. Hauptsätze haben eine betörende Einfachheit. Sie sind meist klar strukturiert und immer gut verständlich. Sie erlauben allerdings auch wenig Interpretationsraum. Das muss nicht schlecht sein. In Hauptsätzen geht es um Information und sonst wenig mehr. Abschwächungen haben kaum Platz in ihnen. In einfachen Sätzen lässt es sich schwer zwischen den Zeilen lesen. Auch das muss nicht schlecht sein.

Wie viel Spannung kann man reinpacken in einen kurzen Satz? Wie komplex kann man sein in schlichten Sätzen ohne Komma? Ist ein Satz ohne Komma immer schlicht und einfach? Kann ich alles ausdrücken in diesen gewöhnlichen Subjekt-Prädikat-Objekt-Strukturen? Es ist einen Versuch wert. Er strengt an. Der Versuch strengt an. Ich denke nicht in so klaren Kategorieren. Ich denke eher in Schattierungen in grau und relativiere ganz gern. Woran liegt das? Will ich mich absichern vor unangenehmen Schlussfolgerungen anderer? Ich weiß es nicht. Ich weiß so vieles nicht. Nur soviel: Mit nur Hauptsätzen schaffe ich nicht so leicht 1.952 Wörter.

Wie ohne Punkt und Komma

Ein paar Jahre ist es her, da fragte ich einige Freunde meiner Schwester, ob sie ihr nicht ein paar nette Gedanken zu ihr aufschreiben könnten, ich würde diese dann in einem Buch zusammenstellen; und diese Anfrage löste ein ganze Flut netter Gedanken aus, insbesondere auch von einem guten Freund, den ich bis dato gar nicht persönlich kannte, der schrieb, was es über meine Schwester zu sagen gebe, könne man doch letztlich in einem Satz zusammen fassen – eine Aussage, die mich zunächst einmal irritierte, denn das klang erstmal negativ und ein wenig abwertend, als gäbe es im allgemeinen nicht viel zu sagen über sie, und als nächste Erwartung dachte ich, es müsse ja schon ein ganz ungeheurer Satz sein, der genau auf den Punkt bringt, was meine Schwester ausmacht, und war gespannt, was das sein könnte, und dann las ich aber weiter und musste meine erste Reaktion und zweite Erwartung gleichermaßen korrigieren, denn es zeigte sich, dass Satzlängen deutlich variieren können, und dabei wurde mir klar, dass es die Länge gar nicht ist, auf die es ankommt (obwohl es gemeinhin heißt, in der Kürze liegt die Würze, und dieser Satz mit seinen 1.952 Wörtern selbst von Schachtelsatzliebhabern nicht mehr als kurz bezeichnet werden konnte), sondern vielmehr der Inhalt, und dieser entpuppte sich als überaus unterhaltsam und inhaltsreich und lobend und wertschätzend, und da hatte ich dann nicht nur einen tollen Text für mein Buch für meine Schwester und einen interessanten anderen Blickwinkel auf sie – weil einfach jeder Freund einen anderen Blickwinkel auf einen Menschen hat als ein anderer –, sondern auch einen Beitrag, der vom Stil her so anders war als alle anderen, so erfrischend und belebend und spaßig und besonders, dass ich im Nachhinein sehr dankbar war, dass mir jemand gerade so einen Satz geliefert hatte über meine Schwester, denn so einen Satz gab es von sonst niemandem über sie, und auch für sie war dieser Satz am Ende ein besonderer, was mich einerseits besonders gefreut, andererseits aber auch vor einige Herausforderungen gestellt hat, denn wie bringt man in solch einer Endlosschleife von netten Gedanken den Lesefluss erleichternde Absätze unter, ohne das Stilmittel zu zerstören – eine Frage, die mir ziemlich Kopfzerbrechen bereitet hat, für die ich dann aber die wunderbare Lösung fand, an Stellen, die leicht wie Gedankensprünge verstanden werden konnten, Fotos einzubauen, die das Ganze zu einem im wahrsten Sinne des Wortes bunten Potpourri von netten Gedanken und netten Fotos gemacht haben.

Medienkompetenz

Es heißt oft, dass man Medienkompetenz von Kindern dadurch fördern kann, wenn man sie möglichst früh an Medien (und hier sind nicht Bücher gemeint!) heranführt. Gemeinhin wird das als Begründung dafür herangezogen, dass man Fünfjährige mit einer Wii-Station spielen lässt, mit dem Eintritt in die Grundschule einen Nintendo für das Kind kauft, Siebenjährigen eine Playstation zur Verfügung stellt und Neunjährigen ein Smartphone in die Hand drückt, weil sie bald in die weiterführende Schule wechseln. Das Kind selbst steht dabei weniger im Vordergrund der Überlegungen, sondern vorrangig das Alter entscheidet über Haben oder Nicht-Haben.

Unsere Kinder hatten von all dem nichts; der Älteste durfte sich mit gut 15 sein erstes eigenes Smartphone (selber) kaufen und hatte mich nach zwei Tagen mit dem mobilen Handgerät locker rechts überholt, was die Medienkompetenz angeht. Ob unsere Zurückhaltung sich auch dahingehend auswirkt, dass er vernünftiger damit umgeht, als er es bei einem früheren Einstieg in die Handy-Welt getan hätte, bleibt sicher abzuwarten. ABER: Geschadet hat ihm der Verzicht nicht. Medienkompetenz ist ihm offenbar nicht verloren gegangen. (Und ja, seine Beziehungen sind nicht den Bach runtergegangen – weder die zu uns noch die zu seinen Freunden.)

Ich wünschte mir, dass in der Hinsicht ebenso viel Wunsch nach individueller Entscheidung eine Rolle spielen würde wie in vielen anderen Bereichen auch: Wie ernähre ich MEIN Kind, was darf MEIN Kind, wie sieht die Schule/beachten die Lehrer MEIN Kind. Erziehung ist absolut Privatsache; für Mediennutzung gibt es einen gesellschaftlichen Standard, dem man sich nur schwer entziehen kann, ohne als total altmodisch zu gelten beziehungsweise wie ein Spaßverderber.

Nähe

Ich fühle mich den unterschiedlichsten Menschen nah – manchmal kenne ich sie gar nicht persönlich. Das ist eine Nähe, die Raum und Zeit überwindet, rein geistiger Natur: Da spricht mich ein Schreibstil an, bringen mich Ideen zum begeisterten Nicken, schätzt ein Autor, den ich mag, denselben Pastor wie ich – und ich fühle mich demjenigen nah, vertraut, wünschte mir die menschliche Begegnung manchmal, um das, was ich an Nähe denke, auch wirklich zu erleben. Das Internet macht es möglich, dass ich ein Bild vor Augen habe und Leute auf der Straße freundschaftlich grüßen würde, die mich aber gar nicht kennen.

Würde mir jemand einen Wunsch freistellen oder zwei oder drei – ich wünschte mir Begegnungen mit diesen Menschen, die so viel für mich bedeuten, von denen ich mich verstanden fühle, für die ich aber gar nicht existiere und die ich letztlich nur zu kennen meine. Vielleicht ist es ein Segen, dass mir keiner einen Wunsch freistellt: Ich weiß nicht, ob die tatsächliche Begegnung der Vorstellung in mir standhalten würde.

Kurznachrichten-Krüppel

Ich habe SMS nicht richtig verstanden. Meine Kurznachrichten werden immer wieder mal alles andere als kurz. Mein Sohn dagegen treibt Kurznachrichten auf die Spitze: Er reiht ein paar Anfangsbuchstaben aneinander. Die kann der Empfänger nur verstehen, wenn er einen gewissen Auflösungscode verinnerlicht hat. Manches wie U2 kennt man ja schon, anderes ist mir total schleierhaft und ehrlich gesagt anstrengender zu lesen und zu schreiben als normale Sätze. Ob sich diese Abkürzungen irgendwann wieder überlebt haben werden und vergehen wie eine unpraktische oder kurzlebige Mode? Ich sitze das mal aus – und nerve meine SMS-Empfänger weiter mit ganzen Sätzen.

Gebrauchsanweisung für Teenager-Eltern

Ich will ein Handbuch! (Es muss aber gut geschrieben sein.)

Als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, erschien mir die größte Schwierigkeit in der Erziehung, wie ich dem neuen Menschlein das Sprechen beibringen würde. Ehrlich, darüber habe ich mir wirklich Sorgen gemacht – auch wenn befragte Schon-Eltern behaupteten, das ginge mehr oder weniger von allein. So war es dann auch. Sprechen und viele andere Dinge haben unsere Kinder von uns quasi im Vorbeigehen gelernt, meist erforderten sie keine besonderen Kompetenzen unsererseits abgesehen von Zeit, Geduld und Gemeinschaft. Die Krone: „Ich kann da allein mit dem Rad hinfahren, kannst du mir ruhig zutrauen.“

„Zutrauen“ ist dann irgendwann umgeschlagen in „zumuten“ – und ich als Mutter bin überrascht. Die Teenager in unserer Familie wollen noch immer dürfen – aber müssen, das wollen sie nicht. Und das schwierigste für mich ist nicht, was ich ihnen beibringen möchte, sondern auszuhalten, dass ich mich dabei unbeliebt mache.

Natürlich werden wir Eltern verglichen, und offenbar sind die anderen immer lustiger, cooler, großzügiger und vor allem entspannter. Ich würde gern auch so gesehen werden – vor allem entspannt; aber aus Sicht unserer Kinder bin ich im Verteilen der Rechte zu unentspannt (Ausgeh- und Medienzeiten) und im Verteilen von Pflichten zu großzügig („Muss ich da selbst mit dem Rad hinfahren????“).

Und dann muss man auch noch immerzu nachjustieren in der Erziehung. Was heute funktioniert, geht in einem halben Jahr nicht mehr – weil die Kinder älter und selbständiger geworden sind. Was bei dem einen zieht, lässt den anderen kalt – weil sie unterschiedliche Persönlichkeiten haben. Beim Erstgeborenen probiert man allein rum, bei den jüngeren Geschwistern reden die älteren gern mal ein Wörtchen mit.

Erziehung ist ein Lernfeld, das kein Ende zu nehmen scheint, in dem Erfahrungswerte eine kurze Halbwertszeit haben, für das es keine pauschalen Antworten gibt und auf das einen niemand wirklich vorbereitet. Am Ende sind wir sehr auf Intuition angewiesen und müssen vor allem mit einem rechnen – Fehler zu machen.