Erziehung, die wehtut

Manchmal entscheide ich etwas für eins meiner Kinder, was sich weder für das Kind noch für mich gut anfühlt. Da fahre ich es trotz des Regens (oder der Eiseskälte) nicht zum Musikunterricht. Ich verbanne es vom Essen, weil es sich – wieder – nicht an abgemachte Tischregeln hält. Ich begrenze die Aufnahme von Süßigkeiten ebenso wie den Konsum digitaler Medien. (Ein besonders schwieriges Feld, denn: „Mama, das kannst du nicht verstehen, du bist anders aufgewachsen.“)

Manchmal geht es mir um Respekt, manchmal darum, Konsequenzen des Lebens beim Kind zu lassen und nicht selbst zu tragen. Obwohl ich Regeln vorgebe, ist mein Ziel ein selbständiges und lebenstüchtiges Kind. Oft wird mir dann – vom Kind – Härte vorgeworfen, logisch. Wenn ich dem Vorwurf hinterher spüre, ist Wahrheit drin: Ich reagiere bisweilen unnachgiebig – hart. Es fällt mir nicht immer leicht, ich handle nicht im Affekt, es ist keine Wut im Spiel. Meine erzieherische Maßnahme ist in den meisten Fällen gut überlegt, bedacht und mir manchmal wirklich abgerungen.

Ich will mein Kind nicht ärgern, obwohl es sich so anfühlt. Ich will ihm helfen, in einem Leben in Gemeinschaft zurecht zu kommen. Irgendwann wird es mich verstehen. Vielleicht.

Etwas fehlt

etwas fehlt

Ein Baum wurde vom Blitz getroffen, die Überreste ein paar Tage später von den Leuten des Grünflächenamtes entsorgt. Der Stumpf ragt noch ein kleines Stück aus der Erde, sonst könnte man auf den Gedanken kommen, da hätte nie ein Baum gestanden.

Stimmt nicht: Die Nachbarbäume zeigen ihn noch, den Baum. Bei ihnen hat er seine Spuren hinterlassen. Jahrzehntelange Nachbarschaft färbt ab. Jetzt sieht es so aus, als würde etwas fehlen.

Wie viel mehr stimmt das für uns Menschen? Ob wir es wollen oder nicht und egal, in welcher Beziehung wir zueinander stehen: Jede Form des Miteinanders – als Ehepaare, Freunde, Nachbarn, Kollegen – hinterlässt ihre Spuren. Je dichter die Beziehung, desto mehr färbt der andere in irgendeiner Weise auf mich ab. Vor allem diejenigen Menschen, die ich als herausfordernd empfinde, prägen mich. Es kann sein, dass „anstrengende“ Menschen mehr Einfluss auf meine charakterliche Entwicklung haben als die Leute, die leicht zufriedenzustellen sind. So sehr die unbequemen Zeitgenossen mich also herausfordern, so sehr würden sie mir fehlen, wären sie nicht da.

Gebranntes Kind

Vor anderthalb Jahren habe ich mir im Garten beim Fußballspielen den Mittelfußknochen angebrochen. Einer meiner Söhne bemerkte damals sofort: „Mama, das hat ganz schön geknackt.“ „Ach, was, das ist sicher nur verstaucht, ich kühle das mal“, war meine verzweifelte Antwort – wider besseres Ahnen. Und? Er hatte recht.

Die Heilung nahm einige Zeit in Anspruch, aber drei Monate später konnte ich wieder laufenderweise meine Runden ziehen. Bis auf eine gewisse Empfindlichkeit im ersten Winter gab es körperlich keine spürbaren Folgeerscheinungen. Aber meine Psyche war noch angeknackst: Fußballspielen im Garten stand bisher nicht wieder auf meinem Programm. Das gesamte letzte Jahr habe ich mich gedrückt, mich nicht getraut – gebranntes Kind scheut das Feuer.

Letztens überwog die Liebe zu meinem Jüngsten, der keinen zum Fußballspielen hatte. „Na gut“, dachte ich, „eine halbe Stunde kicke ich mit ihm. Wird schon gut gehen.“

Was soll ich sagen: Ich habe lange nicht so gelacht, es hat solchen Spaß gemacht. „Mama, wieso musst du so lachen?“ „Weil ich keine Schnitte habe gegen dich, mein Schatz! Du bist viel schneller und besser mit dem Ball.“ Ich habe überhaupt nicht an meinen Fuß gedacht und ihn auch nicht gespürt. Es geht wieder, ich habe keine Angst mehr, ich bin wieder richtig heil – an Leib und Seele.

Beredtes Schweigen

Manches Schweigen ist einfach nur nervig. Da fragt man was, da sagt man was – und es kommt keine Antwort. Warum auch immer. Mir geht das auf den Keks. Vielleicht weil ich selbst ungern eine Antwort schuldig bleibe.

Etwas ganz anderes ist beredtes Schweigen – doch das beherrschen nur wenige Leute. Gemeint ist ja nicht ein Stillsein mit Augenrollen, das meist einen Hauch von Verachtung in sich trägt. Auch nicht gemeint ist ein Nicht-Reagieren, mit dem man den anderen zappeln lässt: „Dazu sage ich jetzt nichts, vielleicht später, wart mal noch ein Weilchen.“ Es wird gern als Macht-Demonstration eingesetzt.

Beredtes Schweigen ist das, was mir von einem schlauen Menschen bisweilen entgegenschlägt, wenn ich nach langem Überlegen, Abwägen, Zögern wortreich zu derselben Erkenntnis gelangt bin wie er. Manchmal ist es mir peinlich, dass ich so lange gebraucht habe. Öfter freue ich mich einfach nur über das stille Einvernehmen.

(Fast) alles falsch

Eine unserer Töchter kam kürzlich mit zwei Arbeiten von der Schule nach Hause. Chemie und Physik – wir wussten vorher, dass das nicht ihre starken Fächer sind. Das Ergebnis: in beiden Fällen (fast) alles falsch.

Weil sie ziemlich geplättet war, den Tränen nah, wollte ich trösten, aufbauen, ermutigen.

„Ist nicht so schlimm, nimm´s dir nicht so zu Herzen“, sagte ich. Falsch, denn: „Ich will aber keine 4 auf dem Zeugnis haben, Mama, Chemie ist epochal.“

„Du kannst doch nächstes Mal vorher fragen, damit du das Thema verstehst“, sagte ich. Falsch, denn: „Ich dachte doch, ich hatte es verstanden. Ich dachte, ich kann das!“

„Du kannst ja das Wochenende nutzen, dir von deinem Bruder Chemie und Physik erklären zu lassen“, sagte ich, „oder auch zu mir kommen. Ich gebe mein Bestes.“ Falsch, denn: „Ich kann aber nicht den ganzen Samstag Chemie und Physik lernen. Das verdirbt mir ja das ganze Wochenende.“

Alles, was ich gesagt habe, war falsch. Was wäre richtig gewesen? Ich habe keinen Schimmer. Nächstes Mal halte ich die Klappe – eine Option, die für meine Tochter in ihren Chemie- und Physikarbeiten nicht ohne unangenehme Folgen bleibt.

Wohlfühljahreszeit (2)

Heute Morgen war es kalt, die Luft klar und frisch, der Himmel blau. Auf dem Rad wehte mir ein schneidender Wind entgegen. Ich dachte an den Sommer, aber nur kurz. Ich dachte auch: „Ist gar nicht so schlecht dieses Wetter. Kein Regen, kein Schnee, die Straßen eisfrei, die Luft eisig. So mag ich Winter.“

Ich bleibe ein Sommermensch, aber unter bestimmten Bedingungen mag ich auch Winter.

Wertlos oder unbezahlbar?

Unser Fahrradanhänger ist 17 Jahre alt. 17 Jahre. Fast so alt wie unser ältester Sohn. Er sieht nicht mehr so gut aus – der Fahrradanhänger. Er ist in die Jahre gekommen. Bis auf platte Reifen hin und wieder und ein bereits mehrmals ausgetauschtes Regenverdeck haben wir nicht viel reparieren müssen in den 17 Jahren. Die zuletzt installierte Plane ist nicht mehr wirklich regensicher, aber das macht nichts: Ich muss keine Kinder mehr trocken von A nach B bringen, und für meine Einkäufe kann ich die regenfreien Stunden abpassen. Denn: In unserem Fahrradanhänger sitzt schon lange kein Kind mehr. Heutzutage dient er ausschließlich zur Beförderung von Sachgütern, aber das sehr häufig.

So sieht er auch aus. Alt, viel genutzt, oft gebraucht, ausgeblichen, teilweise zerlöchert. Wenn ich ihn mit einem Wort beschreiben sollte, würde ich „abgenutzt“ wählen. Nicht schön, wirklich nicht schön. Würden wir ihn loswerden wollen – nur noch auf den Schrott damit oder zum Restmüll. Das Ding kauft uns keiner mehr ab, das Ding nimmt auch niemand geschenkt. Geschäftlich gesprochen ist dieser Vermögensgegenstand längst abgeschrieben, im Grunde wertlos.

Für mich persönlich hat der Anhänger auch keinen emotionalen Wert. Obwohl ich dankbar bin, dass wir ihn all die Jahre hatten: Die Tatsache, dass alle unsere fünf Kinder irgendwann in dem Teil gesessen haben, ist mir keine Träne wert.

Dennoch hat der Anhänger einen Wert für mich: Aus meiner Sicht als praktisch denkende, einkaufende Frau ist er unbezahlbar.

Unterschiedliche Währungen

Mit gleicher Münze heimzahlen. Soll man ja nicht, weil es kindisch ist – und langfristig gesehen sicherlich keine kluge Vorgehensweise. Abgesehen davon ist es manchmal auch nicht einfach: Münze ist nicht gleich Münze. Was mich auf die Palme bringt, lässt meinen Mann ganz kalt – oder umgekehrt.

Hinter mir lassen

Ich habe den Eindruck, der Blick von Kindern geht nur nach vorn; als käme es im Leben darauf an, Dinge hinter sich zu lassen und abzuhaken: Etwas lernen, es dann können und das Nächste anpacken. Das gilt für alles. Laufen, Radfahren, sprechen, Schule, Ausbildung, FÜHRERSCHEIN, Jobeinstieg, Familie gründen etc. Manches wird ein Automatismus, den man wahrscheinlich nie mehr verlernt, immer nutzt, für selbstverständlich nimmt. Laufen zum Beispiel. Anderes vergisst man und lässt es wirklich hinter sich. Bei mir sind es – unter anderem – Kurvendiskussionen, Redoxreaktionen und Russisch.

Mittlerweile glaube ich allerdings, es kommt im Leben eher darauf an, Zustände zu erleben. Sie nicht abzuarbeiten, sondern in ihnen zu sein. Mensch, Freundin, Mutter, Berufstätige – die Liste ist erweiterbar. Aus dieser Perspektive ist kein Lernen irgendwann vorbei: Wie ich mich in einer Sprache IMMER weiterentwickeln kann, werde ich auch in den Umständen und Zuständen, in denen ich lebe, nicht fertig. In den entscheidenden Bereichen meines Lebens lerne ich nicht aus und lasse nicht viel hinter mir. Ich schleppe meine Erfahrungen mit mir herum wie einen Schatz – oder wie einen Klotz. Und manchmal reichen sie nicht aus für die Situation, in der ich bin, und eine neue „Lösung“ muss her. Nur für die allerwenigsten Dinge und Situationen gibt es einfache Lösungen. Und sehr selten nur eine.

Das kann ich als frustrierend empfinden oder auch als entlastend: Ich muss flexibel sein und lernwillig bleiben. Dafür darf ich Fehler machen und keine Antwort haben. Mein Leben besteht nur zu einem sehr geringen Teil aus „abhaken“. Und erst im Sterben werde ich es wirklich hinter mir lassen.

Anders als früher

Wenn ein Kind geboren wird, hat die Mutter es in der Hand, wie wichtig sie für ihr Kind ist. Wenn ich als Mutter die Beziehung zu meinem Kind will und da bin, werde ich DIE Bezugsperson schlechthin sein und der Mensch, an dem es sich hauptsächlich orientiert. Bei uns hieß das: Sobald es Worte gab, war ich die Anlaufstelle für alles: „Mama, ich muss dir was erzählen.“

15 Jahre später frage ich einen meiner Söhne, mit wem er über wichtige, persönliche Dinge reden würde. Die Antwort: „Mit dir am allerwenigsten!“

Schmeckt erstmal bitter, ist aber eine gute Entwicklung – so muss es sein.

Wer weiß: Vielleicht wird es in weiteren 15 Jahren wieder mehr Gesprächsbedarf von seiner Seite geben. Es liegt nicht mehr in meiner Hand, aber ich bin da.