Begrenzte Freiheit

Im Restaurant bei uns im Ort redet eine meiner Nichten die Bedienung mit Du an: auftaktlos und ohne Vorwarnung. So kennt sie es wahrscheinlich aus der Großstadt oder aus den Studentenkreisen, in denen sie sich zu Hause fühlt. Auf den ersten Blick wirkt das Du vielleicht modern. Ich mag es trotzdem nicht; für mich klingt es respektlos. Dabei ist meine Wahrnehmung natürlich ebenso beeinflusst von der Prägung, in der ich mich zu Hause fühle.

Die Gedanken sind frei, heißt es in einem Lied. Ich würde sagen: Auch unser Denken ist begrenzt. Ohne einen unabhängigen Kompass richten wir uns alle nach unserem Umfeld. Und ganz selbstverständlich übernehmen wir die Werte, die dort gerade angesagt sind.

Es mag heutzutage üblich sein, jeden zu duzen, der mir über den Weg läuft – frei von Konventionen ist es nicht. Denn unsere persönliche Freiheit, meine `freie´ Entscheidung, hat einen klaren Rahmen. Und dieser orientiert sich an Standards und Maßstäben von außen und den Konsequenzen, die ein Ignorieren derselben nach sich zieht. Das ist eine Tatsache, egal ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht.

Bezogen auf Du oder Sie waren die mich prägenden Umgangsformen früher da als die meiner Nichte. Sie sind deswegen nicht automatisch veraltet oder falsch und erst recht nicht weniger frei: nur anders begrenzend. Das ist alles.

Streiten lernen

`Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte´, heißt es. Einen wahren Kern findet man ja immer in derartigen Sprichwörtern. Aber die Streitgespräche meiner Kinder bereiten mir selten Freude: vor allem, wenn sachliche Kontroversen emotional werden. Dann schwanke ich von einer Position zur anderen, bin angespannt und irgendwann auch ein bisschen verärgert. Es fällt mir schwer, mich nicht einzumischen, nicht Partei zu ergreifen. Stattdessen wünsche ich mir, dass sie aufhören, sich zu streiten. Darüber würde ich mich freuen. 

Dabei weiß ich, dass Können von Üben kommt – in Bezug auf den Geist ebenso wie auf den Körper. Wer schreiben, rechnen, Rad fahren, schwimmen, balancieren oder eine andere Sprache sprechen möchte, muss es einüben. Normalerweise freue ich mich, wenn meine Kinder das freiwillig tun. Wieso nur geht es mir beim Streiten anders? 

(K)ein Weihnachtsbaum

Seit ein paar Jahren haben wir einen Weihnachtsbaum aus Metall. Er ist wiederverwendbar und nadelt nicht. Jahrelang kauften wir eine Nordmanntanne, die ich sparsam schmückte: echte Kerzen, ein paar handgefertigte Aufhänger, Strohsterne, eventuell Kugeln. Allerdings machte mir das Dekorieren wenig Spaß; ich musste immer die brennenden Kerzen im Blick behalten; und außerdem ging mir die Nadelei spätestens nach einer Woche auf den Keks. Noch dazu wurde der Baum von Mann und Kindern kaum beachtet.

Ich selbst käme mittlerweile sehr gut zurecht ohne Weihnachtsbaum. Der Kunst-Baum ist ein Kompromiss – für eine meiner Töchter ein total hässlicher. Sie hätte lieber eine richtige Tanne: grün und lebendig und wie früher. Entweder sie wusste ihre Begeisterung gut zu verbergen. Oder aber wir finden immer das toll, was wir gerade nicht haben. 

Heiligabend: ein Tag wie jeder andere

Es ist der 24. Dezember und gleichzeitig ein ganz normaler Dienstag: Weil die nächsten beiden Tage nichts geöffnet haben wird, gehe ich gleich morgens einkaufen. Außerdem läuft die Waschmaschine, und ich sollte noch bügeln, bevor der Berg zu groß wird. Das Kochen übernimmt freundlicherweise mein Mann, so dass ich, wie immer dienstags, laufen gehen kann. Nachher fahren wir in den Gottesdienst und werden feiern, dass Gott Mensch wurde. Das ist ein riesiges Geschenk – und doch passierte es schon damals ganz unspektakulär.

Als Jesus geboren wurde, waren seine Eltern unterwegs und hatten keine tolle Unterkunft: Eine Geburt passte eigentlich gerade nicht so gut. Für Gott aber war der Moment genau richtig – ein Tag wie jeder andere. Genauso geschieht es heute noch. Frederick Buechner beschreibt das sehr schön: „Jesus neigt dazu, mitten hinein in unser ganz reales Leben zu kommen … Er kommt nicht in einer Flamme unwirklichen Lichts, nicht während einer Predigt, nicht durch die Geburtswehen eines religiösen Tagtraumes, sondern … zum Abendessen oder während wir an der Straße entlanglaufen. … Er kommt nicht von hoch oben herab, sondern immer direkt in das wahre Leben und in die Fragen hinein, die das wahre Leben stellt.“

Gott beugt sich nicht nur herab; er geht auf die Knie und kommt auf Augenhöhe mit uns. Und das macht aus einem ganz normalen Tag eine heilige Angelegenheit.

Übersehen – und nichts passiert?

Rechts-vor-links-Situationen sind gefährlich – jedenfalls für Radfahrer. Es kommt vor, dass ich (unbeabsichtigt) übersehen werde, klar. Das ist doof, aber, solange nichts passiert, kein Problem. Wenn Autofahrer mich zwar bemerken und trotzdem ungerührt Gas geben, reagiere ich weniger entspannt. Das ist doof, und ich ärgere mich, obwohl nichts passiert. Denn wer mich mit Absicht übersieht, signalisiert mir, dass ich weniger wichtig bin. „Ich fass es nicht!“, murmele ich dann und schüttele innerlich den Kopf. Aber es nutzt ja nichts: Sowas passiert mir immer wieder. 

Teuer? Ansichtssache!

„Es gibt nur noch Weihnachtsbriefmarken für 85 Cent“, sagt die Frau bei der Post, „weil das Briefporto zum neuen Jahr erhöht wird.“ „Schon wieder?“, entfährt es mir, „Ich kann mich noch an 50 Cent erinnern.“ Die letzte Porto-Erhöhung sei drei Jahre her, sagt die Frau hinterm Tresen verärgert, als wäre dies ihre eigene Entscheidung. Außerdem habe sie auch mal für fünf Euro die Stunde gearbeitet, die Zeiten änderten sich eben.

Da ist Musik in der Luft, spüre ich, weitere Kommentare spare ich mir. Vielleicht hat sie recht, vielleicht ist das Briefporto viel zu günstig – im Vergleich mit irgendetwas. Aber ich sehe wie klein und leicht meine Briefe sind und finde es teuer, dass einer davon bald 95 Cent kosten soll: immerhin fast so viel wie ein Liter Milch.

Ein paar Tage später schicke ich einen Brief nach Australien – für vergleichsweise günstige 1,10 Euro, und einen Kalender nach England – für nicht ganz so günstige 16,99 Euro. Da werde noch einer schlau aus der Preispolitik der Deutschen Post.

Wie gut!

Ich bin kein Typ für gute Vorsätze zum Jahresbeginn. Wenn es mir gelingt, eine gute neue Gewohnheit zu etablieren, hat das mehr mit meiner Disziplin und Entschlossenheit zu tun als mit dem Zeitpunkt. Natürlich ist die Zeit manchmal reif für etwas, aber das ist nun mal selten Ende Dezember.

Außerdem bin ich offenbar auch kein Typ für Gutscheine. Diese schieben etwas Gutes in eine ferne Zukunft – und machen daraus im Laufe der Zeit eine vage Erinnerung: Da war doch noch was? Unsere Kinder `schulden´ uns zum Beispiel noch ein Fancy dinner for two und einen Wandertag zu siebt im Harz. Mittlerweile hängen die – wunderschön gestalteten – Gutscheine dafür nicht mehr an der Pinwand. Und wir freuen uns sehr, wenn wir überhaupt alle zusammen hier am Tisch sitzen. Andersherum wird es oft schwierig, einen von mir verschenkten Gutschein bei mir einzulösen. Meine Freundin wartet allein von diesem Jahr noch auf zwei Unternehmungen mit mir: ein gemeinsamer Abend im Weinkeller in der Innenstadt und einmal Porzellan bemalen. In jedem Fall ist auch hier das Problem der richtige Zeitpunkt.

Fürs nächste Jahr nehme ich mir also vor, keine Gutscheine mehr zu verschenken, die nicht mit einem konkreten Datum versehen sind. In Bezug auf gemeinsame Unternehmungen ist es am besten, ich wähle in Zukunft die Variante: „Hast du spontan Zeit?“ Ich glaube, das ist mal ein wirklich guter Vorsatz!

Eindampfen

Ich bin für den Gottesdienst nach Weihnachten zuständig. Wie immer, wenn ich mich auf derartige Aufgaben vorbereite, gehe ich eine Weile `schwanger´ mit dem Thema oder Text und bete, dass Gott mich irgendwie inspiriert. Das Thema ist mir ziemlich schnell klar: Jesus ist das Licht dieser Welt. Was heißt das denn konkret? Wie spüre ich das, was kann ich durch ihn besser sehen oder verstehen? Ist sein Licht ansteckend – leuchte ich auch? Und so weiter und so fort; ich werde noch tagelang gedanklich beschäftigt sein damit, meine Gedankenfülle zu lichten.

Normalerweise präsentiere ich dann nicht alles, was mir im Vorfeld durch den Kopf ging: Ich kürze, verwerfe, schreibe um und versuche, einen Fokus herzustellen, der den Zuhörern hilft und hängenbleibt. Während der Vorbereitung bleibt mein Ergebnis tagelang vorläufig; ich muss es liegenlassen und später nochmal rangehen. Diese Feinarbeit, das Bündeln all der guten Gedanken, das mutige Streichen all dessen, was auch gut, aber zu viel wäre – das ist am schwersten und dauert. Es verlangt mir am meisten ab, obwohl ich in der Vergangenheit schon öfter so etwas gemacht habe.

Das ist wie beim Kochen, denke ich. Du nimmst alles Mögliche und lässt anderes weg, schnippelst, brätst und würzt. Und dann lässt du alles köcheln, bis sich alles vereint zu einem guten Geschmack – und die Konsistenz stimmt. Du brauchst Geduld und musst manchmal nachwürzen, aber weitere Zutaten brauchst du nicht: Sie machen das Ganze nicht besser verdaulich.

Das, was ich in dem Gottesdienst sagen will, habe ich schon beisammen. Zwar kommen mir noch immer weitere Ideen, die thematisch passen würden. Aber für dieses Mal ist es besser, ich lasse sie weg. Denn viel hilft nicht viel, sonst merkt man sich am Ende überhaupt nichts. Immer noch mehr gute Gedanken machen das Ganze nicht besser verdaulich.

Garten und so

Beim Gang `um den Pudding´ passieren wir einen Vorgarten nach dem anderen; sie unterscheiden sich signifikant. Spontan fallen uns Kategorien ein, jeweils mehrmals vertreten:

Profis am Werk – täglich
Tip-top in Ordnung und nahezu unkrautfrei
Liebevoll betüdelt, mit Mut zur Lücke
Bewusst pflegeleicht
Ganz passabel
Wir tun nur das Nötigste

Unser eigener befindet sich wohl nahe der Mitte. Ein Garten aber sticht heraus. Selbst in der beginnenden Dämmerung erahnen wir den Leitspruch dieser Hausbesitzer:

Ach, … , lass, es ist ein zu weites Feld …

Kirche und Politik

„Doch, Kirche muss politisch sein“, betont ein Pastor im Gespräch mit mir. Ich hatte seine Aussage in Frage gestellt und ernte entschiedenen Widerspruch. Sofort frage ich mich, ob ich das anders sehen kann als er: Gibt es hier ein Richtig oder Falsch? Mein „Kirche muss nicht politisch sein“ kam spontan und aus dem Bauch heraus – dort haben viele meiner Überzeugungen ihren Ursprung. Die Diskussion geht noch ein kleines bisschen hin und her und erstreckt sich darauf, wer unsere gespaltene Gesellschaft heilen kann. „Jesus“, sage ich – und auch das kommt spontan und von irgendwo in mir drinnen. Zu fromm sei ihm das, doof und fromm, findet der Pastor, hat aber seinerseits keine andere Idee. Wir diskutieren, haben unterschiedliche Meinungen – und dann ist es auch gut.

Natürlich lässt mich so ein Gespräch nicht los. `Wie man das wohl sieht´, habe ich mich schließlich schon oft gefragt – als gäbe es in vielen Fragen nur eine einzige Wahrheit, nur eine einzige Sichtweise. Ich weiß nur selten von vornherein schon Bescheid oder ahne, was man zu einem bestimmten Thema so denkt. Es sei denn, mein Gegenüber beharrt auf seinem Standpunkt wie in dieser Situation. Alternativloses `So ist das!´ macht mich per se skeptisch. Und Jesus als Heiler ist für einen Pastor vielleicht zu fromm und doof, für mich aber genau richtig.

Später beim Laufen fällt mir die Frage ein, die uns vielleicht weitergeholfen hätte. Was nämlich heißt es, Kirche müsse politisch sein? Wenn man von Kirche überhaupt derart aktiv und personifiziert sprechen will, stimme ich zu, dass sie eine Position haben sollte. Aber ist das schon politisch? Politisch im Sinne von: den Staat beeinflussen, nach Macht innerhalb des Gemeinwesens streben und sich um Regierungsverantwortung bemühen wollen. Mit dieser Definition im Hinterkopf bleibe ich erst recht bei meinem ursprünglichen Nein. Aber das kann man anders sehen, keine Frage.

„Wer sich mit dem Zeitgeist vermählt, wird früh Witwe.“
Søren Kierkegaard