Ohne Ziel?

„Ohne Ziel“, sagt mein Mann, „kommt man irgendwo an, aber mit Sicherheit nicht dort, wo man hinwollte.“ Der Satz ist nicht von ihm – spricht ihm aber aus dem Herzen. Wahrscheinlich sind sich die meisten Menschen darüber einig, dass ein Ziel grundsätzlich eine gute Sache ist. Mir geht es theoretisch ähnlich; aber praktisch fällt es mir oft schwer, ein klares Ziel zu benennen: Wo will ich hin, was will ich schaffen, warum will ich etwas tun? Oft mache ich einfach drauflos, manchmal mit Hilfe einer to-do-Liste, die ich beliebig ergänze und auf jeden Fall abarbeite: irgendwann. Wenn mein Mann mich aber nach einem Ziel fragt, fühle ich mich schnell überfordert – vielleicht sogar ein bisschen unzulänglich.

Glücklicherweise merkt man mir meine Ziellosigkeit kaum an: Ich bin gut organisiert und schaffe, was ansteht – manchmal sogar mehr. Denn ich mag ohne Ziel unterwegs sein, dafür aber bin ich spontan und flexibel. Jetzt zum Beispiel schalte ich den Computer aus und putze meine Tastatur. Das stand zwar als Tagesziel nicht auf meiner Agenda, wird sich aber nachher so anfühlen, als wäre ich heute einen Schritt weitergekommen.

Der Weg und das Ziel

Es ist gut, ein Ziel zu haben und darauf fokussiert zu sein – darin sind Männer tendenziell besser als Frauen. Ich als Frau (dagegen) empfinde Ziele eher als grobe Richtungsangabe: Sie lassen sich theoretisch klar benennen, werden aber in der Praxis manchmal von realen Umständen `vernebelt´. Der Weg dagegen ist für mich sehr konkret und deutlich mehr als ein zu bewältigendes Hindernis, um das eigentliche Ziel zu erreichen. Meist bin ich viel länger `unterwegs´ als `am Ziel´. Auf dem Weg kann und muss ich flexibel sein; er ist DAS unverzichtbare Mittel zum Zweck. Denn: Vor dem Ziel kommt IMMER der Weg.

Vom Schritt zum Weg zum Ziel

Ein paar Aufgaben erledige ich weniger gern als andere – Bügeln zum Beispiel oder Putzen: Der hergestellte Zustand hat für meinen Geschmack eine zu kurze Halbwertzeit.

Andere Tätigkeiten fallen extra an und müssen einmalig erledigt werden. Mehr Spaß machen sie deshalb nicht: Wer Lego verkaufen will, muss Lego-Modelle auseinander bauen und Teile zählen – bisweilen mühselig.

Aber Pflichten sind nicht per se unangenehm. Wenn ich einmal angefangen habe, liegt auch im Müssen etwas Schönes: Gerade bei den praktischen Aufgaben ermutigt mich der Vorher-Nachher-Effekt; das Tun selbst macht mir dann mehr Spaß, als ich vorher dachte. Jeder Berg ist aus der Distanz am größten – und schrumpft, wenn man einfach anfängt, ihn zu besteigen. „Der erste Schritt ist der halbe Weg“, nennt mein Mann das. Manchmal wird der Weg selbst dann zum Ziel.

Ohne Ziel zum Ziel

Männer sind zielgerichteter als Frauen. Mir zumindest fällt es schwer, vorher zu wissen, wo ich hin will – und trotzdem komme ich meist genau da an, wo ich hinwollte. Das gilt für meine groben Lebenswege ebenso wie für meinen Alltag: Ich habe ein Zimmer in unserem Haus, in dem mein Schreibtisch steht. Es ist ein Durchgangsraum. Dort steht auch der Kinder-Computer und ein Drucker; allerdings benutzt diesen nur noch das jüngste Kind regelmäßig.

Seit Jahren ist dieses Zimmer auch eine Sammelstelle: Hier lagern Fotoalben, Zeichnungen und hingekritzelte Notizen der Kinder, die ich nicht wegwerfen kann. (Was beschreibt schließlich besser, wie wütend Kinder manchmal auf ihre Eltern sind, als ein abgerissener Zettel mit den Worten: „Und morgen wird nicht alles wieder in Ordnung sein!“)

Seit Jahren herrscht in diesem Zimmer daher auch ein gewisses Chaos: Schließlich ist es nicht nur Arbeits-, sondern auch Lebensraum. Schon eine Weile wollte ich hier mehr Platz für mich haben – wusste aber nicht genau, wie. Ich brauchte Hilfe und fragte meinen Mann. Er arbeitet gern zielorientiert, ließ sich aber trotzdem auf mein diesbezüglich unklares Projekt ein. Wir räumten ab, zogen sämtliche Stecker, bewegten Möbel … Währenddessen blieb ich unsicher, wo wir enden würden; aber gleichzeitig entstand eine wunderbare neue Anordnung. Mit dem Endergebnis bin ich hoch zufrieden: Ich habe jetzt das, was ich haben wollte, auch wenn ich es vorher nicht wusste.

Der halbe Weg

„Der erste Schritt ist der halbe Weg“, heißt es. Stimmt. Ganz oft jedenfalls. Es ist keine Schande, wenn dieser einem schwerfällt. Unterwegs stellt man dann sehr oft fest: „Der Weg ist das Ziel.“ Und das Zögern vor dem ersten Schritt erscheint einem im Nachhinein unnötig. Einmal losgegangen entsteht eine eigene Dynamik. Einmal angekommen ist die Freude kurz – ein Ziel ist kein Ort zum Verweilen. Aus der schwierigen Entscheidung vor dem ersten Schritt wird im Nachhinein manchmal der – leicht arrogant klingende – Satz: „Kenn ich, weiß ich, war ich schon.“

Dabei überbewertet man dadurch vielleicht das Ziel – obwohl das „Dahinkommen“ viel länger dauert, uns viel mehr prägt, von viel größerer Bedeutung ist.