Zuhause

Eine Freundin von mir wohnt seit einiger Zeit in England – nach fast 20 hier in Celle. Der Ort, in dem sie jetzt wohnt, ist erst seit einem Jahr ihr Zuhause; sie hat noch kein starkes soziales Netz. Vor ein paar Wochen besuchte sie uns und andere alte Freunde hier. Danach fühlte sie sich in England vergleichsweise einsam. Ich kann das verstehen, obwohl auch mein Freundeskreis in Celle keine riesigen Ausmaße hat. Trotzdem bin ich schon 25 Jahre hier zu Hause und habe Freunde und Bekannte – und außerdem dieses ganz besondere Gefühl von Vertrautheit: Für unsere Nachbarn gehören wir hierher, mit einem Ehepaar teilen wir sogar ein Zeitungs-Abo. Im Supermarkt kenne ich die meisten der Angestellten und oft auch einige Kunden. Und wenn ich in der Zeitung die Platzierungen nach einem Lauf-Event studiere, staune ich, wie viele der Namen mir vertraut sind.

Weite, Tiefe, Enge, Nähe …

Ich kenne jemanden, der beruflich viel fliegen muss. Mehrmals im Monat fliegt er innerhalb Europas hin und her, manchmal führt ihn eine „Geschäftsreise“ auch nach Übersee oder Saudi Arabien. Er kennt mit Sicherheit viele Flughäfen; Ein- und Auschecken ist für ihn Routine, Koffer packen und aus dem Koffer leben ebenso. Er hat ein Zuhause, aber er ist eben auch viel und weit unterwegs und genießt die Abwechslung.

Wie wenig das mit meiner Lebensnormalität zu tun hat, wurde mir klar, als ich kürzlich mit dem Fahrrad unterwegs war. Mein alltäglicher Radius beträgt ungefähr zwei bis sechs, maximal zehn Kilometer. In diesem engen Bereich spielt sich mein und unser Leben ab – Schule, Sportvereine, Laufrunden, Freunde und Bekannte, unsere Gemeinde. Hier sind wir zu Hause, kaufen ein, treffen Menschen; hier gehen wir zum Arzt oder ins Kino. Nicht alles ist wunderbar, aber bekannt und sehr vertraut. Von außen betrachtet könnte mein Leben gleichförmig wirken und langweilig, aber das ist es nicht: In diesem so abwechslungsarmen Sein begegne ich immer wieder denselben Menschen – ja. Aber unser Miteinander ist doch sehr komplex. Die Nähe zu anderen birgt Konfliktpotential und Möglichkeiten der Selbsterkenntnis – und hoffentlich der Selbstreflexion. Das gibt meinem Leben nicht unbedingt räumliche Weite, aber eine gewisse Denk-Tiefe.

Dagegen erlebte ich mein letztes Unterwegssein als oberflächlich: Das Flugzeug an sich ist bei Fernreisen praktisch; Flughäfen allerdings sind für mich sterile Orte – dieses anonyme Aufeinanderhocken von vielen Menschen im Sicherheitsbereich, berufsmäßig freundliches Bodenpersonal, gelangweilte Verkäufer in Duty-free-Shops. Die Flughäfen von Hannover und London wirkten – bis auf die Größe – ähnlich und austauschbar. Aber die Städte sind völlig verschieden und die Menschen ebenso. Von jetzt auf gleich war nichts mehr vertraut und bekannt. Auf den ersten Blick mag das spannend sein, sogar attraktiv und inspirierend. Das wurde es aber erst hinterher: Ich brauchte die Enge meines abwechslungsarmen Zuhauses, um meine Erfahrungen in der weiten Welt zu sortieren und einzuordnen.

Nähe

Ich fühle mich den unterschiedlichsten Menschen nah – manchmal kenne ich sie gar nicht persönlich. Das ist eine Nähe, die Raum und Zeit überwindet, rein geistiger Natur: Da spricht mich ein Schreibstil an, bringen mich Ideen zum begeisterten Nicken, schätzt ein Autor, den ich mag, denselben Pastor wie ich – und ich fühle mich demjenigen nah, vertraut, wünschte mir die menschliche Begegnung manchmal, um das, was ich an Nähe denke, auch wirklich zu erleben. Das Internet macht es möglich, dass ich ein Bild vor Augen habe und Leute auf der Straße freundschaftlich grüßen würde, die mich aber gar nicht kennen.

Würde mir jemand einen Wunsch freistellen oder zwei oder drei – ich wünschte mir Begegnungen mit diesen Menschen, die so viel für mich bedeuten, von denen ich mich verstanden fühle, für die ich aber gar nicht existiere und die ich letztlich nur zu kennen meine. Vielleicht ist es ein Segen, dass mir keiner einen Wunsch freistellt: Ich weiß nicht, ob die tatsächliche Begegnung der Vorstellung in mir standhalten würde.