Großartig unabhängig

Ab und zu begleite ich eine meiner Töchter auf `ihren´ Pferdehof, um ein wenig teilzuhaben an dem, was sie so leidenschaftlich betreibt. Dort bin ich Gast und habe keine Ahnung; meine Tochter dagegen fühlt sich wie zu Hause und kennt sich aus. Ich erlebe sie als souverän, selbstbewusst und mir überlegen. Sie ist gleichberechtigter Teil eines Teams, in Wort und Tat – Insider eben. Ich dagegen bin zwar willkommen, bleibe aber dennoch außen vor.

Es macht mich stolz, meine Tochter auf eine Art und Weise zu erleben, von der ich wenig weiß. Sie ist meinem Einfluss entwachsen, mehr noch: Ich bewundere, wie selbstsicher sie sich einbringt und wie selbstverständlich zugehörig sie sich dort bewegt. In diesem Kontext ist sie ganz eigenständig kompetent – und wird respektiert und geschätzt. Ich kann weder mit ihr mithalten noch hat sie irgendetwas davon mir zu verdanken. Es ist wunderbar, sie zu erleben und ihr als einem von mir unabhängigen (und fast ein bisschen unbekannten) Menschen zu begegnen. Heranwachsende Kinder sind großartig.

Ich bin …

In verschiedenen Zusammenhängen rede ich von mir selbst als die Mutter von …, die Frau von …, die Nachbarin von …, die Freundin von …. Dazu kommt noch: Ich glaube an, ich bin überzeugt von … Alle meine Bezugspersonen sind mir angenehm, eine positive Referenz: Meine Kinder, mein Mann, meine Geschwister und so weiter. Es wird auch (noch) wohlwollend gesehen, wenn Menschen an etwas glauben oder im jeweiligen Umfeld akzeptierte Überzeugungen vertreten. Was aber, wenn mir Bezugspersonen oder meine Überzeugungen unangenehm oder peinlich sind? Erwähne ich sie dann auch?

Wenn nicht: Ich bin Dagmar, eine mittelalte Frau in Deutschland. Ich arbeite zu Hause, gehe gern laufen, schreibe alles mögliche auf, brauche normal viel Schlaf, liebe die englische Sprache, bin eher extrovertiert usw.

Ohne Bezüge bin ich ein nicht besonders klar definierter Mensch. Erst die Gemeinschaft mit anderen macht mich zu der, die ich bin – ob ich es will oder nicht. Erst die Nähe oder Distanz zu anderen Menschen und vor allem Meinungen, Ansichten, Überzeugungen ermöglicht ein eindeutigeres Bild von mir.

Normal

Was ist normal? Was ist nicht normal? Unsere Denkfenster mögen so weit sein, wie wir uns nur vorstellen können, unsere Toleranz (unserer Meinung nach) nahezu grenzenlos: Wir werden doch in ganz subjektiven Denkmustern und Kategorien einordnen, beurteilen und auch verurteilen. Oft merken wir gar nicht, wie vorgeprägt unser Denken ist, wie eingefahren, wie wenig flexibel. Das eine „Normal“ gibt es nicht: Wir sind Kinder unseres Aufwachsens, unseres Umfeldes, unserer Erziehung.

Für wie unabhängig von allen Bindungen, aller Voreingenommenheit wir uns halten – wir sind nicht unabhängig. Wir können uns höchstens entscheiden, toleranter und emanzipierter als bisher mit anderen Meinungen umzugehen: Wie gestalte ich meine Freizeit, gehört Pünktlichkeit zum guten Ton oder ist nur das akademische Viertel akzeptabel, ist Fleiß ein hohes Gut oder Strebertum? Wie initiativ darf eine Frau sein, ohne als aufdringlich oder anbiedernd zu gelten? Stellt Rache die Ehre wieder her oder löst sie einen schier unaufhaltsamen Kreislauf der Gewalt aus?

Man muss bei der Frage nach normal gar nicht weit weg gehen – manchmal komme ich schon mit meinen Lieblingsnachbarn nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Wie offen und verständnisvoll Gesprächspartner sind, liegt nämlich ganz und gar nicht in unserer Hand, sollte uns aber nicht verunsichern. Interessant ist, inwieweit wir trotz unserer Umstände und Erfahrungen, trotz des gesellschaftlichen Druckes leben, reden, tun und an unseren Überzeugungen festhalten. Uns dabei trotzdem als Teile einer menschlichen Gemeinschaft zu verstehen und auch so zu benehmen und wahrhaftig barmherzig mit Andersdenkenden zu sein, ist wohl die eigentliche Schwierigkeit…