Linientreu oder Voltaire?

Die Tochter meiner Freundin geht zur Berufsschule. Ein Lehrer fragte dort kürzlich (während des Unterrichts) den Impfstatus ab. Er sprach von einem `sensiblen´ Thema – und forderte dennoch nur die (vier) Ungeimpften auf, ihre Entscheidung zu begründen.

Eine Lehrerin meines Sohnes bezeichnet (während des Unterrichts) die nicht geimpften Schüler als `verantwortungslos´.

Die empfohlenen Maskenpausen (während des Unterrichts) werden an der Schule meiner Kinder nur von wenigen Lehrern erlaubt.

Mitschüler fordern sich (während des Unterrichts) gegenseitig dazu auf, ihre Maske `ordentlich´ über die Nase zu ziehen – es heiße schließlich Mund-Nasen-Schutz.

Meinungsäußerungen sind nicht verboten, ich weiß. Ist es aber momentan ebenso möglich, als Lehrer oder Schüler (während des Unterrichts) andere Ansichten zu äußern? Interessante Diskussionsansätze könnten sein:

`Geimpfte sollten sich ebenso testen wie Ungeimpfte, weil sie ebenfalls infiziert und Überträger sein können.´
`Offiziell haben wir keine Impfpflicht. Aber der inoffiziell gefühlte Impfzwang – ausgelöst durch die Berichterstattung, die Maßnahmen und den Rechtfertigungsdruck – passt nicht zu einer demokratischen Gesellschaft.´
`Ich halte es für bedenklich/angebracht, die weitergehenden Einschränkungen der Grundrechte mit einer zu geringen Impfquote zu rechtfertigen.´

Ich habe den Eindruck, mittlerweile gilt: Wenn man linientreu ist, darf man alles (sagen). Unangepasst wäre es, wir hielten es mit Voltaire: „Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen.“
Voltaire (1694-1778)

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold?

Diese Weisheit stimmt nicht immer. Wenn uns bestimmte Themen Mühe machen, ist es keine gute Lösung, dem Gespräch darüber ganz aus dem Weg zu gehen. Konflikte verschwinden nicht, wenn man sie meidet – und Wut, Enttäuschung und Verletzungen ebensowenig.

„Hört auf zu streiten“, ruft eine Tochter während einer Meinungsverschiedenheit zwischen meinem Mann und mir. „Doch, wir müssen uns streiten“, antworte ich, „ohne Streit funktioniert eine Beziehung nicht. Es wäre gut, du würdest das früh lernen.“ Sie schaut mich skeptisch an. Ich schiebe hinterher: „Wir sind vielleicht kein gutes Beispiel für „gutes Streiten“, aber wir bemühen uns wenigstens.“

Einige Tage später streite ich mich mit der anderen Tochter. Es geht um eine Nichtigkeit – aus meiner Sicht zumindest. Sie fragt, ich antworte abschlägig, sie reagiert pampig, ich werde wütend, sie geht und Schluss. Ein paar Stunden gehen wir uns aus dem Weg und schweigen über die Sache, aber zwischen uns schreit es nach Klärung. Beim Abendbrot sitzen wir uns gegenüber und vermeiden den Blickkontakt. Kurz bevor wir aufstehen, schaue ich sie an und entschuldige mich: „Es tut mir leid, dass ich wütend reagiert habe. Mein `Nein´ schmeckt dir nicht, aber ich bleibe dabei. Ich habe dich lieb, auch wenn sich das nicht so anfühlt für dich.“ Sie lächelt mich an und antwortet: „Mir tut`s auch leid, dass ich so pampig war. Mit deinem `Nein´ kann ich leben. Hab` dich auch lieb.“

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold? Stimmt nicht immer!

Gut streiten

Auseinandersetzungen gehören zu Beziehungen, es geht nicht ohne. Sie können gut laufen oder weniger gut; es ist klar, was einem lieber ist. Aber: Wie geht das überhaupt – gut streiten. Ich kann das nicht. Von meiner Oma stammt der schlaue Spruch: „Liebe Seele, hab Geduld, es haben alle beide Schuld.“ Wie recht sie hatte! Der zweite Teil ist wohl wahr, der erste Teil ist sau schwer.

Dabei wäre einem mit Geduld schon sehr geholfen: Geduldig zuhören, was der andere zu sagen hat. Geduldig erklären, inwiefern man anderer Meinung ist. Geduldig bleiben, auch wenn es immer wieder um dieselben Kleinigkeiten geht. Geduldig nach einer Einigung oder einem guten Kompromiss suchen – vielleicht ist das dann schon gutes Streiten.