Ein Brief

Mit Briefen mache ich die Erfahrung: Je mehr ich selbst schreibe, umso seltener bekomme ich eine Antwort. Das ist schade, aber nicht zu ändern. Ich schreibe weiter; und ab und zu fische ich einen Antwort-Brief aus dem Briefkasten. Diesmal ist er von meiner Grundschulfreundin: Überrascht, zufrieden und erwartungsvoll gehe ich ins Wohnzimmer und lese: „Obwohl ich mich nicht oft bei dir melde, denke ich oft an dich.“ Das geht gut los – und in dem Stil wunderbar weiter. Diese meine älteste Freundin berichtet, wie sie die Zeit erlebt. Ich teile ihre Gedanken, fühle mich verstanden und bin dankbar, dass es noch so passt zwischen uns. Wir sehen uns alle paar Jahre, telefonieren gelegentlich und dann sind da diese seltenen Briefe. Da ist wenig Kommunikation, aber viel gemeinsame Sicht: Kein Wunder, dass wir seit unserer Einschulung vor 45 Jahren befreundet sind … 

Vögel sichten

Vor Jahren ging ich spazieren mit einem meiner Schwäger. Wir sahen eine Gans auf der Wiese – beziehungsweise ich sah eine Gans und er sah einen Reiher. Erst als das Tier Geräusche machte, gab mein Schwager zu, dass eventuell mit SEINER Sicht etwas nicht ganz stimmen könnte. Restlos überzeugt war er nicht.

Seither schicke ich ihm gelegentlich eine Motiv-Karte mit irgendwelchem Federvieh: Störche, Lerchen, Kraniche, aber auch Gänse oder – Reiher. Auch selbst fotografierte Gänse und Reiher habe ich ihm schon zugesandt – meist jedoch in minderer Qualität, weil ich eine langsame Fotografin bin und diese Vögel scheu und schnell sind. Nichtsdestotrotz bleibt mein Schwager standhaft: Verbal geschickt kontert er meine „Angriffe“ und zweifelt auch nach fast zwei Jahren noch, dass wir damals eine Gans gesehen haben.

Heute beim Spazierengehen sichtete ich einen Falken – gut erkennbar am typisch rüttelnden Flügelschlag –, viele Elstern und Krähen, zwei Gänse (ziemlich sicher sogar Kanada-Gänse mit dem charakteristischen schwarzen Hals) und einen Reiher. Leider hatte ich keinen Fotoapparat und nicht einmal ein Handy dabei. Ich könnte meinem Schwager eine Mail schreiben, was es hier bei uns auf den Wiesen alles gibt – und wie gut sich die einzelnen Vögel optisch voneinander unterscheiden. Aber ich kann meine Beobachtungen nicht visuell belegen. Mein Schwager weiß, dass ich nicht lüge. Dennoch bin ich mir sicher: Meine Schilderungen würden seine Zweifel nicht zerstreuen. Er wäre wohl selbst dann nicht von meiner Sicht zu überzeugen, wenn er persönlich neben mir stände.