Schön ist anders

Ich komme oft an einem Garten vorbei, den ich rein optisch eher pragmatisch nennen würde als `schön angelegt´. Gerade im Moment ist er besonders karg: In den künftigen Gemüsebeeten befindet sich noch blanke Erde; dazwischen markieren ein paar Steinplatten die Wege – krumm und schief. Die Rasenfläche ist klein und wirkt vernachlässigt, das wird so bleiben: Ich weiß aus eigener Anschauung, dass der Schwerpunkt dieser Gärtner eindeutig auf dem Nutzgarten liegt.

Zwischen Gemüseabteilung und Rasenfläche `wächst´ ein Hibiscus-Busch: momentan mit vielen knallroten Blüten, einige voll aufgegangen, andere noch knospig. Es ist zwar schon frühlingshaft warm, aber für Hibiscus-Blüten ist es auf jeden Fall zu früh. Der Busch ist nicht echt, sondern ein reines Deko-Element aus Kunststoff.

Ich finde das interessant: Der Rest des Gartens ist total zweckmäßig; es scheint den Besitzern nicht wirklich um Attraktivität zu gehen. Das ist total in Ordnung. (Auch mir ist in mancher Beziehung `praktisch´ deutlich wichtiger als `schön´, sagen zumindest meine Kinder.) Und deshalb verstehe ich nicht, wieso diese Gartenbesitzer einen Plastik-Hibiscus in die Erde graben. Meiner Meinung nach passt er mit seiner künstlichen Makellosigkeit überhaupt nicht in diesen Garten – wirklich schön ist anders.

Unbeschreiblich, überwältigend und sehr schön!

Abends wird es früh dunkel; um halb neun gehe ich in den Garten und schaue nach oben. Ich würde gern das Kreuz des Südens entdecken; es gelingt mir nicht. Später erfahre ich, dass es zur Zeit erst gegen Mitternacht am Himmel auftauchen wird. Meine Sternensuche ist dennoch nicht umsonst, sondern offenbart mir ein Meer aus glitzernden Lichtern – buchstäblich. Je mehr sich mein Auge an die Dunkelheit gewöhnt, umso mehr Sterne kann ich sehen: zählen zwecklos. Zwar erkenne ich keine Sternzeichen, dafür aber einige sehr helle und sehr, sehr viel `normal´ helle Sterne. Im Umkreis von 15 Kilometern leuchtet hier keine Laterne. Der Himmel präsentiert sich entsprechend: unbeschreiblich, überwältigend und sehr, sehr schön.

Schlicht und schön

Unser Ferienhaus ist großzügig geschnitten und sparsam eingerichtet: schlicht und schön. Hier kommt die Seele zur Ruhe. Alles, was wir brauchen, ist da; die Deko ist geschmackvoll und dezent; überflüssiger Schnickschnack fehlt (uns nicht). Wir beziehen unsere Zimmer, Küche und Bäder und nutzen die Terrasse, wann immer es geht, als weiteren Wohnraum. Ein wenig mehr Stauraum wäre nicht schlecht: Binnen kürzester Zeit sind fast sämtliche Oberflächen belegt mit halbvollen Rucksäcken, trocknenden Handtüchern, Schuhen in verschiedenen Größen und Ausführungen, Büchern, wärmenden Jacken für den Abend, Kekspackungen für zwischendurch …

Nach drei Tagen stöhnt meine Tochter: Ihr graue es schon vor dem Zusammenpacken, sagt sie, hier liege überall etwas herum. Ich beruhige sie. Zwar hat sich eine gewisse Unordnung breitgemacht – Ruhe für die Seele war vorgestern. Aber ich weiß aus Erfahrung, dass solch ein Urlaubs-Chaos schlimmer aussieht, als es tatsächlich ist. Eine halbe Stunde aufräumen und alles ist wieder teilweise verstaut, sortiert und ordentlich. Sicher werden wir es zwischendurch einmal tun. Spätestens am Ende der Woche stopfen wir uns und unsere Utensilien wieder ins Auto und hinterlassen ein sparsam eingerichtetes Ferienhaus: schlicht und schön.

Schön?

Mitten auf der Straße steht ein sportlich aussehendes Auto – mit Publikum. Ich gehe zufällig vorbei, aber offenbar gerade im richtigen Moment: „Schön oder nicht schön?“, fragt mich einer der Männer. „Also, wenn man solche Autos mag, dann ist es schön“, formuliere ich vorsichtig – leider nicht vorsichtig genug: „Sie finden es also nicht schön“, sagt er und klingt ein bisschen enttäuscht. Ich murmele was von „ … eher praktisch veranlagt … fünf Kinder … familientauglich …“ und ernte einen mitleidigen Blick. Ob der Wagen neu ist, frage ich noch. „Ja, gerade abgeholt.“ Der Mann ist sichtlich begeistert von seiner Neu-Erwerbung: Er tänzelt darum herum, streicht hier drüber und wischt dort ein imaginäres Staubkorn weg. Der Wagen ist ein Hingucker – ein schnittiger Dodge Charger in einem sogar mir angenehmen Schwarz-Weiß. Aber, ehrlich gesagt: Mein Fahrrad gefällt mir besser.

Jeder findet andere Dinge schön:
Bei meiner Freundin sind es ihre Kühe – und jedes neue Kalb, das gesund und fit ist.
Für meinen Sohn ist das Personal-Ausweis-Foto einer Freundin schön – obwohl sie meiner Meinung nach im Original viel natürlicher (schöner?) aussieht.
Ich mag die Ästhetik von Apple-Geräten; eine Mutter findet ihre Kinder schön.
Unseren Küchentisch halte ich auch nach zwölf Jahren noch für schön, obwohl (oder weil) er mittlerweile viele Macken hat – praktisch … fünf Kinder … familientauglich.

Nicht schön fand ich 2019 in London die modernen Bürohäuser, die zwischen den – meiner Meinung nach schönen – alten Gebäuden emporragen. Der Architekt, mit dem ich damals unterwegs war, sah das anders: `Schön´ sei nur Geschmacksache und total willkürlich, meinte er: Wer entscheide denn überhaupt, ob die Gebäude aus dem 19. Jahrhundert schöner seien als die des 21ten? Schließlich würde sich Architektur immer weiterentwickeln: „Heute geht es weniger als früher darum, wie (schön) etwas aussieht. Stattdessen kommt es darauf an, wie nachhaltig und energie-effizient gebaut wird und ob Räume sich multifunktional nutzen lassen.“ Ich sehe die (mehr oder weniger schöne) Fassade, der Architekt schaut dahinter – und findet das wichtiger.

Die Kategorie `schön´ ist wahrscheinlich keine feste Größe, sondern sehr individuell und relativ. In Bezug auf Autos gefällt´s mir schlicht und geräumig. Wenn schon Hingucker, dann bitte ein Dodge Ram – aber gebraucht. Der ist zwar völlig überdimensioniert und nicht energie-effizient, dafür aber nachhaltig und multifunktional nutzbar. (Schön) praktisch halt!

Wohltuend, schön und nützlich

Der besondere Gruß einer Freundin war wohltuend (ermutigende Worte), schön (ein Sträußchen) und nützlich (Schoko-Leckereien). Auf der beiliegenden Karte stand – passend – ein Satz von Victor Hugo: „Das Schöne ist ebenso nützlich wie das Nützliche. Mehr noch vielleicht.“

Zwar sind die Blüten der Narzissen und Perl-Hyazinthen inzwischen verwelkt und die Süßigkeiten aufgegessen. Aber jetzt öffnen sich die Knospen an den Pfirsichzweigen: Das Schöne ist dauerhafter als das Nützliche – und die wohltuenden Worte bleiben noch viel länger in meinem Herzen!

Dezember in `schön´

Es ist Dezember; die Bäume sind schon lange kahl. Geschneit hat es noch nicht, aber seit drei Tagen ist es winterlich kalt. Gestern war es so neblig, dass es den ganzen Tag nicht richtig hell wurde. Heute schafft es die Sonne durch die Wolken und zeigt, wie Winter auch geht: Die Bäume sind noch immer ohne Blätter, aber nicht mehr kahl – der Reif an den Ästen ist zum Teil zentimeterdick. Die Luft ist klar, es ist einfach nur schön.

Schönes Gezwitscher?

Urplötzlich, ohne ersichtlichen Grund, fängt morgens ein Vogel an zu zwitschern. Es ist noch stockfinster – jedenfalls für mich – und ansonsten still. Ich bin unsicher: Geht wirklich schon die Nacht zu Ende? Der Vogel dagegen wirkt nicht unsicher – jetzt ist genau der richtig Zeitpunkt für klares, lautes Gezwitscher.

Ich könnte das Fenster schließen, es dringt ohnehin saukalte Luft von draußen ins Schlafzimmer. Allerdings müsste ich dafür aufstehen – eine zu unangenehme Vorstellung. Also versuche ich, trotz der Geräusche wieder einzuschlafen.

Es ist jedes Jahr dasselbe Spiel: Ich muss mich an die gefiederten Frühaufsteher und ihr morgendliches Zwitschern erst gewöhnen. Nach ein paar Wochen werde ich davon nicht mehr aus dem Tiefschlaf gerissen und schlafe morgens trotz der Beschallung einfach weiter. Spätestens dann finde ich das Gezwitscher sogar „schön“ – obwohl ich es im Grunde gar nicht mehr wahrnehme.

Nicht einfach nur schön

Bei einem Spaziergang Anfang letzter Woche kam ich vorbei an einem frisch gemähten Feld. Für mich war der Anblick der geraden, gleichmäßigen Reihen Grünschnitt einfach nur schön. Für den Bauern ist er dazu sicherlich noch sehr befriedigend: Gemähtes Grünland ist auf dem langen Weg von der Aussaat bis hin zum Endergebnis „Futter im Stall“ ein relativ später Zwischenschritt. Es fehlt dann nur noch der Transport ins Silo, wo das Grünzeug liegen und gären darf, bis es als Silage auf dem Esstisch der Schwarzbunten landet. Einen Tag später war genau dieser Abtransport bereits erfolgt – so weit das Auge reichte nur kurze Stoppeln. Am Ende der Woche war der Boden gepflügt und damit vorbereitet für die nächste Frucht. Jedesmal präsentierte sich das Feld anders „schön“ – für mich. Für den Bauern kommt jedesmal noch der Aspekt „geschafft“ dazu. In welchem Beruf gibt es dermaßen viele Anlässe zur Zufriedenheit?

Richtig doof? Nicht so schlimm!

Noch immer ist meine Waschmaschine kaputt und ich kann keine Wäsche waschen. Ich vermisse die Beschäftigung mit zu reinigenden Kleidungsstücken nicht, sondern gestalte meine Zeit anders. Heute Nachmittag kommt ein Monteur und wird die Maschine ziemlich sicher wieder reparieren. Dann kann und muss ich wieder waschen. Noch ein paar Stunden genieße ich die freie Zeit, die durch eine – vorübergehend! – nicht funktionierende Waschmaschine entsteht.

Die Vorstellung eines Lebens ganz ohne Waschmaschine ist „richtig doof“; kurzzeitiges Nicht-Waschen-Können dagegen ist „nicht so schlimm“ – vielleicht sogar „ganz schön“.

Wie wichtig ist (mir) „schön“?

Ausgeblichen und nicht mehr schön – das gilt für Sandalen von mir. Sie haben ihre besten Zeiten eindeutig hinter sich, aber funktional sind sie nach wie vor. Ich ziehe sie noch an, stoße damit aber in meiner engeren Familie auf leichte Missbilligung. Das Dilemma ist folgendes:

Zum einen steckt der Grundsatz in mir drin, dass Zweckmäßigkeit wichtiger ist als die Optik. Ich bin geprägt durch „wehret dem Konsum“ und von der Idee einer Dominanz innerer Werte über Äußerlichkeiten. Lieber außen pfui und innen hui als andersherum. Zudem fällt es mir schwer „erfüllt noch seinen Zweck“ nur auf Dinge anzuwenden, die irgendwo verschwinden (wie zum Beispiel alte Schrauben) beziehungsweise zum Spielen und Benutzen gedacht sind (Roller, ein Grill oder ein Wäscheständer mit Roststellen und teilweise verbogenen Stangen).

Andererseits lebe ich heute in einer Welt und Umgebung, in der „schön“ sehr wichtig ist – oder jedenfalls nicht so unwichtig, wie es mir lieb wäre.

In Bezug auf meine Sandalen: Wer entscheidet, wann etwas „nicht mehr schön“ ist? Ich ganz allein oder zum Teil auch die Gesellschaft, in der ich lebe? Und: Was ist es mir wert, nicht nur mit funktionalen, sondern auch schönen Schuhen durch mein Leben zu rennen? Der Preis von neuen Sandalen? Noch nicht ganz.