Normalzustand: ignorant

Manche Beschwerden kommen überraschend und schnell – ein Hexenschuss zum Beispiel: In einem unerwarteten Moment ist es geschehen, der Muskel `macht zu´; starker stechender Schmerz ist die Folge und die sonst übliche Mobilität plötzlich stark eingeschränkt. Ich spüre Muskeln, die ich normalerweise erfolgreich ignoriere.

Dieser Zustand hält ein paar Tage an; die Heilung erfolgt sehr langsam. Nur ganz allmählich entspannt sich der Muskel wieder. Zunächst sind vorsichtige Bewegungen möglich: bewusst und kontrolliert ausgeführt.

Erst viel später stellt sich die übliche Beweglichkeit wieder ein – wenn der Schmerz nicht nur den Körper, sondern auch das Hirn verlassen hat. Dann bin ich wieder die Alte – vollkommen ignorant hinsichtlich dessen, was alles funktionieren muss, damit ich sorglos und schmerzfrei durch meine Tage springen kann.

Gewöhnen wir uns?

Zum Gottesdienst treffen wir uns mit Masken, halten Abstand, nur die Band darf singen. Wir sind dankbar, dass das alles noch geht. Ich habe mich an den derzeitigen Status Quo gewöhnt – das hilft mir, die Auflagen als Ausnahmezustand zu akzeptieren.

Trotzdem wünsche ich mir sehr, dass dieser Zustand vorübergehend ist. Ich erinnere mich sehr gut an daran, wie es vorher war, und hätte das gern wieder. An eine dauerhafte Einrichtung des derzeitigen Status Quo – mit Maske, Abstand und ohne Gesang – will und werde ich mich nicht gewöhnen. Das hilft mir, die Auflagen als neue Normalität abzulehnen.

Momentan leben wir in einer Ausnahmesituation. Das frühere „Normal“ ist eine schöne Erinnerung – ich würde mich gern und schnell wieder daran gewöhnen.

Normal oder anders?

Im Januar liegt das Jahr normalerweise vor mir wie ein offenes Buch mit vielen beschriebenen Seiten: Feste Termine, der Sommerurlaub, Einladungen, besondere Geburtstage… Dieses Jahr kam das Corona-Virus dazwischen und mit ihm diverse Absagen, wochenlang keine richtige Schule und eine merkwürdige, andere Normalität. Die nächsten Monate liefen anders, als ich sie mir vorher vorgestellt hatte – nicht „normal“, „Familie pur und sonst kaum etwas“ in Dauerschleife.

Vor meinem 50ten Geburtstag diesen Sommer war ich wochenlang leicht angespannt: Ich wollte nicht groß feiern, das Ereignis aber auch nicht so wenig beachten wie einen normalen anderen Geburtstag. Und – ganz unbegründet – fürchtete ich mich tatsächlich ein wenig davor, fünfzig zu werden. Der Tag selbst war sehr schön. Meine Geschwister waren für ein paar Stunden da – trotz weiter Anreise. Einige dachten an meinen Geburtstag, andere nicht. Im Nachhinein verlief er anders, als ich ihn mir vorher vorgestellt hatte – nicht furchterregend, sondern eher schön „normal“.

Einige Jahre träumte ich davon, den West Highland Way in Schottland zu wandern. Ich stellte mir die Landschaft vor und auch das Wandern an sich. Dieses Jahr überraschte mich mein Mann mit einer gebuchten Wanderreise. Die Tage in Schottland wurden wunderbar und besonders – aber ganz anders, als ich sie mir vorher vorgestellt hatte – viel anstrengender, gleichzeitig erholsamer und eindrücklicher als ein „normaler“ Urlaub.

Normal ist weder gut noch schlecht; normal ist nur eine Vorstellung.

Normal? Besonders!

In einem Buch las ich einen kurzen Text über das normale Leben in einem armen Land: Ein Mädchen wird angefahren und bricht sich das Bein. Der Motorradfahrer flüchtet, eine Versicherung gibt es nicht. Schmerzmittel muss die Familie in der Apotheke selbst besorgen. Je schneller das Mädchen operiert wird, umso mehr kostet die Behandlung – also wartet die Familie ab, denn sie ist arm. Und das Mädchen leidet.

Ich dachte: Wir haben keine Ahnung, was in anderen Ländern dieser Welt normal ist und wie besonders das ist, was wir für normal halten.

Normal

Was ist normal? Was ist nicht normal? Unsere Denkfenster mögen so weit sein, wie wir uns nur vorstellen können, unsere Toleranz (unserer Meinung nach) nahezu grenzenlos: Wir werden doch in ganz subjektiven Denkmustern und Kategorien einordnen, beurteilen und auch verurteilen. Oft merken wir gar nicht, wie vorgeprägt unser Denken ist, wie eingefahren, wie wenig flexibel. Das eine „Normal“ gibt es nicht: Wir sind Kinder unseres Aufwachsens, unseres Umfeldes, unserer Erziehung.

Für wie unabhängig von allen Bindungen, aller Voreingenommenheit wir uns halten – wir sind nicht unabhängig. Wir können uns höchstens entscheiden, toleranter und emanzipierter als bisher mit anderen Meinungen umzugehen: Wie gestalte ich meine Freizeit, gehört Pünktlichkeit zum guten Ton oder ist nur das akademische Viertel akzeptabel, ist Fleiß ein hohes Gut oder Strebertum? Wie initiativ darf eine Frau sein, ohne als aufdringlich oder anbiedernd zu gelten? Stellt Rache die Ehre wieder her oder löst sie einen schier unaufhaltsamen Kreislauf der Gewalt aus?

Man muss bei der Frage nach normal gar nicht weit weg gehen – manchmal komme ich schon mit meinen Lieblingsnachbarn nicht auf einen gemeinsamen Nenner. Wie offen und verständnisvoll Gesprächspartner sind, liegt nämlich ganz und gar nicht in unserer Hand, sollte uns aber nicht verunsichern. Interessant ist, inwieweit wir trotz unserer Umstände und Erfahrungen, trotz des gesellschaftlichen Druckes leben, reden, tun und an unseren Überzeugungen festhalten. Uns dabei trotzdem als Teile einer menschlichen Gemeinschaft zu verstehen und auch so zu benehmen und wahrhaftig barmherzig mit Andersdenkenden zu sein, ist wohl die eigentliche Schwierigkeit…