Lebensnah

Ein ehemaliger Lehrer kommt in unserer Zeitung zu Wort. Er kritisiert Schule – sie vermittele Inhalte, die für Schüler nicht relevant seien. „In Mathe habe ich schon lange versucht, möglichst lebensnah zu unterrichten“, sagt er, „Wir haben zum Beispiel ausgerechnet, ob ein Elefant in unser Klassenzimmer passt.“ Das klingt erstmal total praktisch und lebensnah, klar. Meine Güte ist der groß, könnte Schülerlein dann denken, wenn es erfährt, dass nur ein Elefant Platz hat, zwei aber wahrscheinlich Platzangst bekämen. Aber was bitte hat ein afrikanischer Elefant im Klassenzimmern einer deutschen Schule zu suchen? Und: Wie soll er hineinkommen? Durch die Tür passt er schonmal nicht – das weiß ich auch ohne Mathe.

Unter lebensnah fiele bei mir daher eher etwas anderes: Der jährliche Wasserverbrauch pro Kopf in Deutschland liegt bei 297cbm, das sind täglich 0,8cbm (1. Rechnung, 297cbm:365d=0,8cbm/d). Umgerechnet sind das 800 Liter (2. Rechnung, 0,8cbm=800l) oder vier Badewannenfüllungen täglich (3. Rechnung, 800l:200l=4). Nebeninfo: Ein Drittel davon brauchen wir tatsächlich fürs Baden und Duschen, ein Drittel für Toilettengänge, ein Drittel für den gesamten Rest: Wäsche waschen, essen und trinken, kochen, den Garten wässern, putzen …

Wie lange muss ein gebräuchlicher Wasserhahn für diese 800 Liter nonstop laufen? Je nach Durchflussmenge des Wasserhahns (normal sind es 15 Liter pro Minute, bei Spar-Armaturen nur sechs bis sieben Liter pro Minute) ergibt sich die 4. Rechnung, 800l:15l/min=53,33min beziehungsweise 800l:7l/min=114,3min. Das sind eine beziehungsweise zwei Stunden – täglich. Ganz schön lange! Vielleicht würde eine solche Mathestunde den einen oder anderen Schüler dazu motivieren, laufende Wasserhähne schneller zuzudrehen als bisher … Das finde ich lebensnah.

Mathe?

Für meinen Jüngsten soll ich eine Mathearbeit unterschreiben. „Ich kann Mathe nicht“, sagt er frustriert: Er hat eine 4. Eine 4 ist ausreichend – damit wäre ich auch nicht zufrieden. Spontan denke ich, er sollte beim nächsten Mal vorher mehr Rechnen üben.

Bei näherer Betrachtung sehe ich, dass die von ihm bearbeiteten Aufgaben fast fehlerfrei sind. Trotz der 4 weiß ich deshalb: Er rechnet gut, daran muss er nicht viel ändern.

Allerdings hat er eine Aufgabe übersehen und eine andere nur zu zwei Dritteln bearbeitet. Für die letzte Aufgabe fehlte ihm Zeit. Wegen der 4 weiß ich deshalb auch: Er konzentriert sich nicht genug und arbeitet zu langsam; daran muss er etwas ändern.

Rechnen üben wäre leichter… 

Zwischen Respekt und Desinteresse

„Hausaufgaben in Mathe schreibe ich meistens ab“, erwähnt meine Tochter nebenbei. Ich schaue sie erstaunt an – und entscheide dann, mich nicht dazu zu äußern. Sie wird schon wissen, was sie tut: Schließlich bewältigt sie ihre Aufgaben gut ohne meine Hilfe, braucht also auch keine ungebetenen Ratschläge von mir. Bei diesem Kind ist meine Zurückhaltung ein Zeichen von Respekt – und ganz und gar angebracht.

„Kann ich Mathe abwählen?“, fragt die andere Tochter ungefähr seit einem Jahr. Die Antwort ist ein klares Nein – noch nicht. Ich unterbinde ihre Versuche, sich um Hausaufgaben zu drücken, und verordne ihr täglich eine halbe Stunde Mathe extra. Bei diesem Kind wäre meine Zurückhaltung ein Zeichen von Desinteresse – und ganz und gar unangebracht.

Der Unterschied zwischen Respekt und Desinteresse liegt manchmal nicht darin, was ich tue, sondern warum ich es tue.

Gut gemacht reicht nicht immer

Es ist lange her, dass ich lineare Gleichungssysteme auflösen oder berechnen musste. Damals konnte ich es, aber in den Jahren seither habe ich viel vergessen – bis heute: In Zeiten von Online-Unterricht haben Lehrer interessante Ideen, neuen Unterrichtsstoff einzuführen und komplizierte Sachverhalte zu vermitteln. Ein Mathe-Lehrer meiner Tochter zum Beispiel stellte ein selbst aufgenommenes Erklär-Video ins Netz – ansprechend, übersichtlich und gut gemacht.

Nach zweimal Anschauen weiß ich wieder, dass es für lineare Gleichungen eine graphische und mehrere rechnerische Lösungen gibt. Auch den graphikfähigen Taschenrechner könnte man in Not-Fällen benutzen – eine Variante, die mir in meiner Jugend nicht zur Verfügung stand. Dennoch hat das Video einen Haken: Meine Tochter mag Mathe nicht besonders, gibt sich wenig Mühe und „weiß“ schon vor den Erklärungen, dass sie sowieso nichts verstehen wird. Da hilft die beste Methode nix; diese Hürde kann der Lehrer auch mit einem noch so anschaulichen Video nicht aus dem Weg räumen. Anlauf nehmen und springen muss das Kind schon selbst – und das macht sie viel lieber mit einem Pferd unterm Po …

Dyskalkulie

Über eine Dreiviertelstunde haben wir für Mathe gebraucht, und ich frage mich: „Hat mein Jüngster Dyskalkulie? Bin ich zu ungeduldig? Setze ich ihn zu sehr unter Druck mit meiner Genervtheit?“ Wieso ist es mir bei den anderen Kindern (und wirklich bei keinem!) nie so aufgefallen, dass Mathematik soooo schwer sein kann? Ich bin ratlos, möchte gut für mein Kind sein und bin es aber nicht. Die Hausaufgaben sind eine Herausforderung für ihn – und für mich auch. Hört das irgendwann auf? Jedes Mal, wenn man den Eindruck hat, eine Baustelle hat sich erledigt, tut sich eine andere auf. Wieso? Ist das so mit Kindern? Er kann nicht 30 plus 32 rechnen, danach noch weniger 30 plus 34. Ich sitze daneben und fange an, innerlich in die Luft zu gehen. Irgendwann ist er den Tränen nahe, weil er mein Unverständnis spürt. Und bei 41 plus 35 geht es gerade wieder so los.

….

Das Geschilderte hatte sich einige Wochen später total erledigt. Er hat nicht Dyskalkulie, er war nur an diesem Tag schon zu lange dabei. Mittlerweile rechnet er schon ganz prima und macht es auch wieder gern mit mir an seiner Seite. Dieses Kind hat sein eigenes Tempo und schafft in diesem alles sehr gut. Hätte ich als `erfahrene´ Mutter eigentlich wissen können…