Standortbestimmung

Wenn ich meiner Familie glauben darf, bin ich geduldig, diszipliniert, meist zufrieden, impulsiv, überschreite manchmal Grenzen, verstehe Ironie nicht so gut, fühle mich schnell schuldig, reagiere auf Komplimente nicht mit einem Danke, sondern mit „Aber das ist gar nicht so toll“ und noch einiges mehr. Das meiste davon sehe ich genauso. Allerdings weiß ich nicht, inwieweit diese Eigenschaften unveränderlich in mir angelegt waren – also mein ICH sind. Ich schätze, zu einem beträchtlichen Teil ist dieses ICH die Summe meiner Lebensumstände:

Wie ich aufwuchs,
an wem ich mich orientiert und welche Ziele ich mir gesetzt habe,
was mir gelungen ist und woran ich gescheitert bin,
womit meine Tage seit Jahrzehnten angefüllt sind …

All das macht mich zu der, die ich heute bin. Es ist müßig darüber nachzudenken, wie mein ICH wäre, lebte ich in anderen Umständen. Nur manchmal frage ich mich, wer ich stattdessen sein könnte.

Covid-19 und wir

Wir sind alle gleichermaßen betroffen von den derzeitigen Zuständen in unserem Land. Nun ja… Einige leiden, einige entspannen, einige haben Stress ohne Ende, einige sind voller Sorge, einige voller Ignoranz. Viele sind irgendwo dazwischen.

Wir sehen, lesen und hören alle dieselben Nachrichten. Nun ja… Es äußern sich Virologen, Wirtschaftler, Politiker, Klein- und Großunternehmer und die Nachbarn. Die Summe der Fakten ist unüberschaubar komplex. Einige lesen und hören alles, was es Neues zu Covid-19 gibt – weltweit. Andere verschließen die Augen vor allem, was an Informationen die Runde macht.

Wir verstehen und interpretieren die zur Verfügung stehenden Informationen alle ähnlich. Nun ja… Wir alle tragen eine Brille – ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht: Wir sind unterschiedlich schlau, ängstlich, verunsichert, vertrauensvoll oder misstrauisch – und so weiter. Entsprechend subjektiv gehen wir um mit dem, was gesagt und entschieden wird: Wir verstehen nur genau so, wie wir verstehen können (und wollen?).

Insofern beeinflusst das Virus uns alle gleich – und doch jeden anders. Es eint und trennt uns. Vielleicht liegt eine Neben-Herausforderung dieser Pandemie darin, aus vielen individuellen Wahrnehmungen eine „Wir-Erfahrung“ zu machen.

Das Eigentliche

„Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen? Ich, der Herr, kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen und gebe einem jeden nach seinem Tun, nach den Früchten seiner Werke.“
Jeremia 17, 9+10

Bei Frederick Buechner las ich kürzlich etwas über „the deepest self“. Seiner Ansicht nach existiert in uns ein „Ich“, das uns ausmacht und letztlich unwandelbar ist. Andere nennen es den Kern eines Menschen, seine eigentliche Persönlichkeit, die Summe seiner Charaktereigenschaften etc. Buechner schreibt über dieses „Ich“, dass aus ihm unsere Weisheit und unsere eigentliche Stärke kommen, dass unsere ehrlichsten Gebete dort ihren Ursprung haben, unsere besten Träume und glücklichsten Momente da beginnen.

Ich fand diese Gedanken zum einen äußerst tröstlich, zum anderen stimmten sie mich nachdenklich: Habe ich Zugang zu meinem Innersten? Wieviel davon ist für andere zu erkennen? Denn: Ich muss das eigentliche „Ich“ in mir ja auch leben lassen, ihm Raum geben. Um diesen Raum kämpfen jedoch allerhand „Dinge“: Umstände, Erwartungen anderer, Prägungen (derer ich mir sehr oft gar nicht bewusst bin) und am meisten wohl mein eigenes Wunsch-Ich. Und das weicht bisweilen ab von dem, was da ist.

Mein „Ich“, mein Herz(?) ist ein trotzig und verzagt Ding. Trotzig, weil es ganz eigen ist; verzagt, weil ihm viel Unsicherheit innewohnt: Bin ich das wirklich? Ich brauche Mut, es anzuschauen. Es ist nicht alles schön, was mich im Innersten ausmacht. Meine Motive sind nicht besonders rein und ehrlich und haben eben nicht immer den Anderen im Blick. Mich in meiner ganzen Fülle anzusehen, kann herausfordernd sein. Gern würde ich mich in meiner Selbstbetrachtung auf die „tollen“ Aspekte beschränken, aber die machen das Bild nicht vollständig. Ich glaube aber, dass nur dann mein wahres „Ich“ sichtbar wird, wenn ich auch meiner wahren Sturheit, Ungeduld, Selbstbezogenheit … nicht aus dem Weg gehe. Das Gesamtpaket bin ich, auch wenn mir einzelne Bereiche fremd sind oder nicht gefallen.

Es erfordert Mut, wirklich ehrlich zu sein; und zumindest in meinem Leben gibt es keinen Menschen, den ich so nah ran lasse, dem ich wirklich alles von mir offenbare. Vielleicht ist das auch nicht nötig, aber gleichzeitig spüre ich einen starken Wunsch in mir, verstanden zu werden und nichts verbergen zu müssen. Befriedigt wird dieser Wunsch für mich nur in der Begegnung mit Gott: Gott hält mich in Gänze aus – und hat mich dennoch lieb. Er ist der Einzige; kein Mensch kann das für mich sein, was Gott für mich ist. Ich erlebe diesen Gott oft als unnahbar und fern und allmächtig; aber ich erlebe ihn eben auch als freundlich und barmherzig. Er sieht mein Herz, mein Innerstes und zuckt nicht zurück, erschrickt nicht, wendet sich nicht ab. Dadurch lädt Gott mich ein, mich selbst auszuhalten und anzunehmen. Mit allem, was da ist. Meine Stärken und Schwächen zusammen will Gott gebrauchen und Früchte schenken, von denen in der Bibel die Rede ist. Buechner beschreibt sie so: „Aus diesem tiefsten „Ich“ kommen auch all die Momente, in denen wir besser oder stärker oder mutiger oder weiser sind, als wir eigentlich sind.“